Musikalisches Orakel „Fühlte mich intellektuell überfordert“
Düsseldorf · Ein „European Philosophical Song Contest“ serviert im Düsseldorfer Schauspielhaus leichte Klangkost mit pikanten Gedankensplittern.
Der „European Philosophical Song Contest“ bewegt sich parodistisch auf dem Grat zwischen Tief- und Flachsinn, zwischen Rock und Chanson. Schon die beiden Moderatoren des Abends im Großen Haus des Düsseldorfer Schauspielhauses, Anna Schudt und Pierre Nydegger, suchen das weltbekannte Format „Eurovision Song Contest“ immer wieder grotesk zu überbieten. Massimo Furlan und Claire de Ribaupierre haben sich das Spektakel ausgedacht.
Elf Songs aus zehn Ländern haben die Moderatoren anzusagen, Lieder einmal nicht von Liebe und Leid, sondern von Diversität, Klimasünden und, ja, Schleimpilzrobotern. Nach jedem Auftritt klopft eine vierköpfige Jury an Ort und Stelle Text und Musik auf Sinn und Unsinn ab und hält Schilder mit der vergebenen Punktezahl in die Höhe. Das Publikum darf ebenfalls abstimmen, indem es durch Dosierung des Applauses einen Lautstärkemesser in die Höhe treibt. Siegen soll der Text, der die beste Vision für Europa bietet.
Das Publikum stimmt mithilfe seines Applauses ab
Los geht’s mit einem über der Bühne angezeigten Songtext von Mladen Dolar, Philosophieprofessor aus Slowenien. „Erkenne dich selbst, erkenne den anderen“, wabert es da. Alle historischen Ereignisse geschähen doppelt, behauptet er musikalisch verpackt: erst als Tragödie, dann als Farce. Tiere, Frauen und Barbaren seien seit je Opfer von Ausgrenzung. Am Ende sind sich die Juroren einig: Philosophie ist nun mal von Männern geschrieben, das hatte Folgen. Heute sollten die Männer auf die Frauen hören.
Belgien ist doppelt vertreten, dabei übertrumpft Flandern klar die Wallonie. Jean Paul Van Bendegem befasst sich in seiner Forschung mit dem Verständnis von Unendlichkeit und mathematischer Bewegung und legt seine Worte am Rande der Verständlichkeit einer Sängerin in den Mund, die einer marmornen Statue der Antike gleicht, allerdings sehr flott agiert. Am Ende verliert sie sich in einem Stroboskopgewitter – ja, so verköpert man Unendlichkeit! 35 Punkte von der Jury, 31 vom Publikum.
So reiht sich ein musikalisches Orakel an das andere. Nicht jedes erweist der Philosophie die Ehre, manches enthält allenfalls Lebensweisheit, anderes übersteigt selbst das Fassungsvermögen der stets bemühten Jury. Als der Beitrag der Wallonie die „Performativität der Nacht“ feiert und anmutige Kreaturen durch die Lüfte fliegen lässt, gesteht Jurorin Birgitta ironisch: „Da fühlte ich mich intellektuell überfordert.“
Jesus ist ein Fußballfeld – mit diesem überraschenden Befund schickt Deutschland in Gestalt des Kulturwissenschaftlers und Dramatikers Leon Engler seine Sängerin auf die Bühne – mit Hitler, Goebbels und dem Erstarken rechter Strömungen in unserer Zeit. Die Jury vergibt 33 Punkte, das Publikum hält sich mit 23 zurück.
Die beiden letzten Beiträge, Norwegen und Schweiz, sind in ihrer Nebulosität von Philosophie so weit entfernt wie Anselm Grün von Immanuel Kant. Was sollen die beiden singenden Kannibalen vor Alpenkulisse? Die junge Jurorin Miriam jedenfalls macht sich auch darauf einen Reim: Der Kannibalismus von heute funktioniert über Drohnen, die aus der Distanz kämpfen. Weit hergeholt, aber das ist eben die Kunst des Interpretierens beim einzigartigen „European Philosophical Song Contest“. Eine Vision für Europa geht aus dem Schweizer Text so wenig hervor wie aus den übrigen.
Nach zweieinviertel Stunden viel Applaus für einen immerhin entspannenden Abend.