Wuppertal 1918: Vor 100 Jahren gab es die erste Revolution im Tal

Vor 100 Jahren gab es die erste Revolution im Tal. Ein Sprecher war Wilhelm Dittmann.

Walter Simons fungierte als persönlicher Vertrauter des Reichskanzlers. Hier sein einstiges Wohnhaus.

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Anfang Oktober 1918 mussten die deutschen Generäle eingestehen: die militärische Niederlage Deutschlands war absehbar. Erich Ludendorff (1865–1937), der Chef der Obersten Heeresleitung, verlangte, dass die Armee und ihre Ehre unter allen Umständen gerettet werden müsse. Ein Waffenstillstand, nicht eine militärische Niederlage, musste die Kriegshandlungen beenden. Zudem sollte das Waffenstillstandgesuch von der Regierung ausgehen, nicht etwa von der Obersten Heeresleitung. Die Militärs drangen darauf, die Sozialdemokraten mit in die Regierung aufzunehmen. Die nun zu erwartenden Einschnitte durch die Niederlage waren nur mit deren Hilfe, so die Überlegung der Militärs, zu bewältigen.

Die Parteispitze der SPD stand nun vor einer Grundsatzfrage: die Verantwortung bei der Demokratisierung von Staat und Gesellschaft zu übernehmen und in das Kabinett des designierten Reichskanzlers Prinz Max von Baden einzutreten oder das vergiftete Angebot abzulehnen. Drei mit dem Bergischen Land und den Wupperstädten verbundene Sozialdemokraten gehörten zu dem engen Kreis der Entscheidungsträger, die diese folgenreiche Entscheidung zu treffen hatten. Als der Partei- und Fraktionsvorstand am 2. Oktober 1918 zu einer gemeinsamen Sitzung zusammentrat, plädierte die Mehrheit, allen voran Philipp Scheidemann, der Reichstagsabgeordnete von Solingen, zunächst gegen den Eintritt in ein „bankrottes Unternehmen“. Erst als Friedrich Ebert, SPD-Vorsitzender und Reichstagsabgeordneter für Elberfeld-Barmen, mit seinem Rücktritt drohte, kam eine – wenn auch nur knappe – Mehrheit von sechs zu fünf Stimmen für den Regierungseintritt zustande. Entscheidend war die Position von Hermann Molkenbuhr, des Vorsitzenden der SPD-Fraktion im deutschen Reichstag. Hermann Molkenbuhr war sieben Jahre der Vertreter der Wupperstädte im Reichstag. Seit 1912 nun vertrat Friedrich Ebert das Wuppertal in Berlin. Molkenbuhr war jedoch weiterhin die Kontaktperson zwischen dem Parteivorstand in Berlin und der SPD-Bezirksorganisation Niederrhein, die ihren Sitz in Elberfeld hatte.

Am 4. Oktober 1918 trat die neue Regierung unter Reichskanzler Max von Baden zusammen. Philipp Scheidemann – als einer der Vorsitzenden der SPD – und Gustav Bauer – als Vertreter der Gewerkschaften – wurden Mitglieder des Kabinetts. Der in Elberfeld geborene Walter Simons fungierte als persönlicher Vertrauter des Reichskanzlers im Rang eines Ministerialdirektors und als Chef der Reichskanzlei. Simons (1861–1937) war in Elberfeld geboren und entstammte der alteingesessen Fabrikantenfamilie Simons. Sein Großvater, Johann Simons (1735–1789) hatte 1760 die Seidenweberei in Elberfeld eingeführt und das Unternehmen „Johann Simon Erben“ gegründet, das zeitweise das größte Unternehmen der Stadt war. Schon der Großonkel Ludwig Simons (1803–1870) war in einer ähnlich schwierigen Situation, während der Revolution 1848/49, als Justizminister in die preußische Regierung berufen worden.
Die absehbare Niederlage und die neue Regierung unter Beteiligung der Sozialdemokarten spaltete blitzartig die politische Landschaft in Deutschland in zwei Lager. „Die einen vernahmen es mit Verzweiflung, die anderen mit Erleichterung. Die kriegsmüden hungernden Massen atmeten auf; die kriegsbegeisterten, siegeshungrigen Bürger schluchzten auf. Die einen stöhnten: „Endlich!“, die anderen stöhnten „Verrat!“. Und schon begannen die beiden Lager mit Hass aufeinander zu blicken. Nur in einem waren sich alle einig: das nun das Ende da sei, so beschrieb Sebastian Haffner, der scharfsinnige Kommentator dieser Zeit, die Situation.

Wilhelm Dittmann war ein führender Kopf unter den Kriegsgegnern. Fotos: Historisches Zentrum

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In allen großen Städten Deutschlands kam es zu Kundgebungen, überall wurden kontroverse Debatten geführt, so auch in Elberfeld und Barmen. Am 20. Oktober sprach Wilhelm Dittmann, einer der führenden Köpfe der Kriegsgegner in der USPD, in der Elberfelder Stadthalle. Erst im Januar war Dittmann zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden weil man ihn für die politischen „Januar-Streiks“ gegen den Krieg verantwortlich machte (Siehe Artikel vom Januar 2018). Drei Tage vor seinen Auftritt in Elberfeld war er von der Regierung amnestiert und aus dem Gefängnis entlassen worden. Dittmann war unverzüglich ins Bergische Land aufgebrochen, wo er als Reichstagsabgeordneter für den (benachbarten) Wahlkreis Remscheid-Lennep-Mettmann großen Einfluss hatte. Zu seinem Wahlkreis gehörten damals auch die selbständigen Städte Ronsdorf, Cronenberg und Vohwinkel. Sein Auftreten in den Bergischen Städten wurde zu einem Triumphzug. Überall, wo er sprach, waren die Säle überfüllt. In Solingen, wo einige Wochen vorher Scheidemann, der Abgeordnete des Kreises, von seinen eigenen Wählern ausgepfiffen und am Reden gehindert worden war, wurde der gerade entlassene Häftling von 4000 Hörern begeistert empfangen. Vor dem Lokal standen weitere Tausende, die keinen Einlass mehr erhalten hatten. Am nächsten Tag sprach er in Elberfeld, dem Wahlkreis von Friedrich Ebert. Auch hier hatte sich vor der Stadthalle eine große Menschenmenge versammelt, die keinen Einlass mehr fand. Wilhelm Dittmann forderte das Ende des Krieges und an Stelle der Monarchie die sozialistische Republik. In seinen Lebenserinnerungen heißt es über die Versammlung: „Kopf an Kopf standen die Menschen.“ Die Sätze „zündeten wie Funken in einem Pulverfaß. Kein Wort war den Massen zu scharf, und ihre Stimmung, die sich immer wieder in Beifallssalven Luft machte, war direkt revolutionär.“ Dittmann forderte auf der Versammlung in Elberfeld auch die Freilassung von Karl Liebknecht, den sicherlich bekanntesten Kriegsgegner, und schlug ihn sogar als Präsidenten der künftigen Sozialistischen Republik vor. Nach der Kundgebung in der Stadthalle formierte sich eine spontane Demonstration, die Dittmann wie ein König durch die Straßen Elberfelds geleitete. Tatsächlich wurde Liebknecht auch am Tag nach der Elberfelder Versammlung aus dem Zuchthaus in Luckau entlassen.

Doch die Kriegsgegner und Anhänger der USPD stellen nur eine Partei der um die Meinungshoheit konkurrierenden Richtungen dar. Am Tag nach Dittmanns Auftritt hielt der „Volksauschuss für nationale Verteidigung“ am gleichen Ort eine ebenfalls überfüllte Kundgebung ab. Unter der Parole „Erwache, Deutsches Volk, in zwölfter Stunde!“ appellierten die Redner an die nationale Geschlossenheit: „Noch nie ward das deutsche Volk besiegt, wenn es einig war! Zeige daß Du frei und stolz und stark bist, das in dir die Kraft der Ahnen lebt, einer Welt von Feinden zu trotzen.“ Pastor Heinrich Niemöller (1859–1941), Pfarrer an der Tinitatiskirche im Arbeiterstadtteil Arrenberg, war einer der Redner.

„Erwache, Deutsches Volk, in zwölfter Stunde!“, lautete der Aufruf, der die Bürger wachrütteln sollte.

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Hunderte mussten vor den Türen abgewiesen werden

Ihm als Pfarrer, so Niemöller, obliege die Aufgabe „Allen Deutschen, deren Herz stark und deutsch für das geliebte Vaterland schlägt“, „Kraft und Mut!“ zu geben. Auch hier mussten Hunderte vor den Türen abgewiesen werden. Deshalb wurde wenige Tage später eine weitere Kundgebung angesetzt. Niemöller war ein über das Wuppertal hinaus bekannten Prediger. Als Vorsitzender der „Gustav-Adolf-Stiftung“, einem reichsweiten evangelischen Diasporaverein, hielt er Predigten und Vorträge in ganz Deutschland und unternahm sogar Vortragsreisen ins Ausland - nach Liverpool, Brüssel und Kronstadt (Russland). Seine wichtigste Reise war die nach Palästina (1898), bei der Niemöller den Kaiser begleitete und den Auftrag übernommen hatte, das offizielle Gedenkbuch der Reise zu verfassen. Niemöllers Söhne Wilhelm und Martin dienten im Krieg. Martin Niemöller wurde später ein bekannter Vertreter der bekennenden Kirche, die Widerstand gegen die NS-Diktatur leistete, und später ein prominentes Mitglied der Friedensbewegung.

Zurück in den Oktober 1918 im Wuppertal. In der gleichen Woche trat auch der Barmer Sozialdemokrat und SPD-Reichstagsabgeordnete für Düsseldorf, Carl Haberland, in der Stadthalle Elberfeld auf. Vor 3000 Zuhörern und Zuhörerinnen lobte Haberland, zugleich Sekretär der SPD-Bezirksleitung, begeistert die Parlamentarisierung der Regierung, die Demokratisierung Deutschlands und den Eintritt der Sozialdemokratie in die Regierung. Haberland warnte zugleich: „Zu den Gefahren, die uns im Westen durch eine gewaltige Übermacht der Feinde drohen“, kämen „die Fährnisse im Inneren von rechts und links. Alldeutscher Machthunger und bolschewistische Verwirrung kämpfen um die Seele des Volkes.“ Deshalb sei „der Zusammenschluss aller freiheitlichen Volkskreise um die Sozialdemokraten das Gebot der Stunde“.

Wilhelm Dittmann reiste nach weiteren Auftritten in Ronsdorf und Wermelskirchen („den alten Hochburgen der Sozialdemokratie seit Lassalles Zeiten), in Remscheid und Essen zurück nach Berlin. In seinen Erinnerungen hielt er fest, „daß militaristisch-absolutistische Regierungssystem (steht) vor dem Zusammenbruch. Selbst seine Stützen haben offenbar den Glauben an seinen Bestand verloren. Sie fühlten, daß der Boden wankte, und wollten sich nicht den Zorn der Massen zuziehen; die vielleicht in kurzer Zeit Herr im Staate sein würden.“

Zwei Wochen später wurde Wilhelm Dittmann Mitglied der sechsköpfigen Revolutionsregierung in Berlin, der auch seine beiden Reichstagskollegen aus dem Bergischen, Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann angehörten.