Beuys, Vostell, Paik & Co 5. Juni 1965: Als Wuppertal das Zentrum der Avantgarde war

Wuppertal · In der Galerie Parnass haben sich Künstler getroffen, die später Weltstars wurden. Eine damals 17-Jährige war Gast des 24-Stunden-Happenings. Das sollte ihr Leben verändern.

Loretta Ischebeck (r.), damals Baum, beim 24-Stunden-Happening in der Galerie Parnass.

Foto: Repro Lothar Leuschen

Im Rückblick liest sich die Gästeliste wie ein Lexikon der modernen Kunst. Joseph Beuys war dabei, Nam June Paik, Wolf Vostell, Bazon Brock, die Cellistin Charlotte Moorman, Eckart Rahn und Tomas Schmit komplettierten die Runde, die sich am 5. Juni 1965 für 24 Stunden in der Galerie Parnass an der Moltkestraße in Elberfeld traf. Happening ist ein Begriff aus dem Englischen und beschreibt, dass etwas geschieht. So war es dann auch. Kulturexperten bezeichneten dieses Treffen später als Höhe- und Wendepunkt der sogenannten Fluxus-Bewegung. Für Rolf Jährling war es der Endpunkt der Galerie Parnass, die es in den 16 Jahren nach ihrer Gründung weit über die Grenzen Wuppertals hinaus zu Ruhm und Ansehen gebracht hatte. Es war ein würdiger Abschied, ein besonderer letzter Aufschlag: 24 Stunden Kunst, Performance – verstörend für viele klassische Kulturfreunde, herausfordernd, reizend für eine große Zahl von Wuppertalern. Die Galerie war sehr gut besucht in diesen 24 Stunden. Und eine junge Gymnasiastin war von der ersten bis zur letzten Minute dabei. Loretta Ischebeck schlief keine Sekunde. Ihr schien bewusst gewesen zu sein, dass sie Zeugin von etwas Großem war, von etwas, das so nicht wiederkehren würde.

Zerlegte Tiere, eine Cellistin, in Folie gewickelt, die ihre Kunst darbot, dazu Fett-Fußabdrücke auf eigentlich fürs edle Aussehen verlegten Parkettböden – Stillstand hier, Bewegung dort. In jedem Raum ein anderer Ausdruck von moderner Kunst, von Fluxus – Happening in einer Gründerzeitvilla. Nordrhein-Westfalen war mit Sammlern wie Peter Ludwig und Galeristen wie Rudolf Zirner, Karsten Greve, den Brüdern Vohwinkel und eben Rolf Jährling in den 1960er Jahren die Region in Europa, wo Avantgarde blühte. Die Aachener Galerie Kicken war eine der ersten, die künstlerische Fotografie der 1930er Jahre als Kunst erkannte. Und an jenem 5. Juni 1965 war Wuppertal das Zentrum der neuen Kunst.

An dieser Ehre hatte Jährling mit seiner Galerie Parnass einen erheblichen Anteil. Er war einer der ersten in Europa, der in den 1950er Jahren den Mut hatte, Künstler wie Alexander Calder auszustellen. Dessen Mobiles bewerteten zunächst längst nicht alle Galeristen und Kunstkritiker als Bildhauerei. Die Galerie Parnass war die erste in Deutschland, die die Arbeiten des Mannes aus Pennsylvania zeigte. Jährling verließ diesen Weg mit seiner Galerie nicht mehr, bis zum Zeitpunkt, als das Happening um 12 Uhr am 6. Juni 1965 zu Ende ging. „Jetzt habe ich genug Klos gebaut. Jetzt fahren wir nach Afrika“, erinnert Loretta Ischebeck sich an den Abschiedssatz des Galeristen. Jährling und seine Frau hätten einen VW-Bus bestiegen und seien losgefahren. Die Galerie Parnass war Geschichte, und die Fluxus-Bewegung neigte sich ihrem Ende zu.

Einige Teilnehmer sollten ihre große Zeit noch vor sich haben

Einige Teilnehmer des Happenings hingegen sollten ihre großen Zeiten noch vor sich haben. Nam June Paik zum Beispiel, vor allem aber Josef Beuys standen am Beginn von Weltkarrieren. Allein, es interessierte sie nicht sonderlich. „Um Geld ging es nie. Bei keinem, der beim Happening war“, sagt Loretta Ischebeck. Kunst um der Kunst willen, l’Art pour l’Art war die Triebfeder, auch dann noch, als die Werke der Künstler für Zig- und Hunderttausende gehandelt wurden.

Als das geschah, war auch Loretta Ischebeck, damals noch Baum, mit von der Partie. Sie stammt aus einer äußerst kulturverbundenen Familie. Die Mutter sammelte moderne zeitgenössische Kunst. Sie hatte bereits ein Gespür für die Bedeutung der Arbeiten von Joseph Beuys entwickelt, als noch sehr viele den Mann mit dem Hut für einen Komiker, einen Spinner hielten. Stella Baum, später Essayistin mit eigener Kolumne in einer großen deutschen Wochenzeitung und gefragter Talkshowgast in den 1980er und frühen 1990er Jahren, schätzte die Avantgarde, weil sie die Avantgarde verstand. Sinn für Kunst und Kultur war ein Teil der Erziehung auch von Loretta Baum. Und die Protagonisten der Avantgarde gingen bei den Baums in Wuppertal ein und aus. „Aber wir mussten die Künstler siezen“, erinnert sich Loretta Ischebeck. Distanz gehörte sich. Dennoch habe für sie bereits mit 15 festgestanden, dass Kunst ihr Beruf wird und sie das enge Tal der Wupper würde verlassen müssen, wenn die Zeit reif wäre. Sie reifte schneller als gedacht, dank, durch und wegen des Happenings vom 5. Juni 1965.

Denn Loretta Baum war dabei, von der ersten bis zur letzten Sekunde. Als 17-Jährige unterlag sie jedoch der Schulpflicht. Die eigentlich strenge, in Kunstfragen aber offene Mutter hatte der Tochter eine Entschuldigung geschrieben. „Ich war also 24 Stunden dabei und habe wirklich kein Auge zugemacht.“ Deshalb war sie auch anwesend, als der WDR mit einem Kamerateam durch die Galerie lief. Der Filmbeitrag wurde einige Tage später im Abendprogramm kurz vor Mitternacht gesendet, und er war auch auf Ausstellungen zu sehen. Dort sah ihn die Kunstlehrerin von Loretta Baum. Und das war es dann mit der Schulkarriere. Blaumachen war ein Skandal. Statt wie geplant das Abitur machen zu können, absolvierte Loretta Baum die Handelsschule. Und wenige Jahre später stieg sie in den Kunsthandel ein. Zunächst war eine Galerie in Köln für sie vorgesehen, doch die wurde nicht eröffnet. Die Betreiber fürchteten Sozialismus in Deutschland, nachdem Willy Brandt zum Bundeskanzler gewählt worden war. „Also ging ich nach London“, berichtet Loretta Ischebeck. Wuppertal sollte für eine lange Zeit nicht mehr ihre Wohnstadt sein. Denn in den gesamten 1970er Jahren wirkte die Wuppertalerin in einer großen New Yorker Galerie, ehe es zurück an die Wupper ging.

Noch heute gilt Loretta Ischebeck als eine der großen Avantgarde-Expertinnen. Ihren ausgewiesenen Sachverstand bringt sie in den Kunst- und Museumsverein ein, der sich auch um die Geschicke des Von der Heydt-Museums bemüht. Sie ist unter anderen neben Bazon Brock eine der letzten Zeitzeugen eines Tages, der Wuppertal für 24 Stunden zum Zentrum der Avantgarde gemacht hat.