Auswanderungsgesellschaften

Der „Exodus der Deutschen“ im 19. Jahrhundert und seine Organisation

Dr. Detlef Vonde ist Historiker und Leiter der Politischen Runde der Bergischen VHS. Er publiziert zu Themen der Urbanisierungsgeschichte, Bildungs- und Sozialgeschichte sowie zur Geschichte des Ruhrgebiets und des Bergischen Landes.

Foto: Anette Hammer

Während zur Zeit Migranten an den Außengrenzen der EU zurückgewiesen werden, die EU selbst mit suspekten Regimen und Despoten der Mittelmeeranrainer dubiose Beziehungen unterhält, um die sogenannte „Welle einzudämmen“ und hunderte von verzweifelten Kindern, Frauen und Männern ihr Leben auf der Flucht nicht nur riskieren, sondern häufig verlieren, in einer Zeit also, da Europa gleichsam zur Festung ausgebaut wird, bietet sich vielleicht für differenzierteres Denken die Gelegenheit zu einem Blick in die Geschichte der großen Wanderungsbewegungen im 19. Jahrhundert.

Zwischen 1815 und 1914 zog es beinahe 33 Millionen Menschen aus Europa in die Vereinigten Staaten, davon allein 5,5 Millionen aus Deutschland bzw. den jeweiligen Territorial-Staaten. Im Jahr der „gescheiterten Revolution“ von 1848/49 machten sich auch etwa 1000 Bürgerinnen und Bürger aus dem Wuppertal, nicht wenige von ihnen als politische Flüchtlinge und oft im kompletten Familienverband, auf den Weg in Richtung Nordamerika, zumeist in den Mittleren Westen. Die Dauer einer solchen Überfahrt ins „Land der Freiheit“ war vom Wetter abhängig und nahm mit dem Segelschiff 7 bis 12 Wochen in Anspruch. Und sie war nicht gerade billig. So kostete eine Reise über Rotterdam und Le Havre nach New York beinahe den gesamten Jahreslohn eines heimischen Textilarbeiters. Reedereien und nicht selten auch das Bordpersonal machten mit den Emigranten glänzende Geschäfte. Ausreise war also keine Perspektive für notleidende „Lumpenproletarier“ sondern eher für die Mittelschichten, die auch das notwendige Startkapital am Ziel der Träume aufbringen konnten.

Die Mehrheitsgesellschaft betrachtete diese „Auswanderungswellen“ stets mit Argwohn und Sorgen. Und beliebt waren die Emigranten dort gewiss nicht. 1853 erschien ein anonymes Pamphlet, das den reaktionären Geist der Zeit besonders gut wiedergibt. Darin wurden sie gleich doppelt stigmatisiert, indem von „Auswanderungsfieber“ und „Auswanderungssucht“ die Rede war und diese eng mit dem „Freiheitsschwindel“ und dem „Revolutionsfieber“ der Jahre zuvor verknüpft wurden. Die Kampfschrift, die von dem damals populären, konservativen Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl aufgegriffen und verbreitet wurde, bezeichnete die Emigranten als „Ausschuss“, „gefährlichste Verbrecher, Schwindler, Gauner und Betrüger“. Einmal in Schwung geraten, fügte der Autor verächtlich noch die Begriffe „Politiker, Freidenker, Atheisten, Sozialisten, Communisten und Rothrepublikaner“ hinzu.

Die Auswanderungsbewegung suchte sich alsbald eigene Organisationsformen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden sogenannte Auswanderergesellschaften, die dabei behilflich waren, den „Exodus“ vorzubereiten, zu organisieren und den Start in ein neues Leben zu vereinfachen. 1847 hatte sich eine informelle Auswandergesellschaft in Elberfeld gegründet, die es auch im nahen Solingen und in Düsseldorf gab. Die Elberfelder tagten nicht selten unter strenger Aufsicht der Polizei. Sie konnten bei ihren Reisevorbereitungen auf eine stetig wachsende Ratgeberliteratur zurückgreifen. Stilbildend war hier der 1829 in Elberfeld erschienene Reisebericht des Remscheiders Gottfried Duden. Ab den vierziger Jahren veröffentlichte der Elberfelder Verleger Julius Bädeker dann mit großem Erfolg die Berichte von Elberfelder Amerika-Auswanderern für ein interessiertes und wachsendes Lesepublikum, das gern auch zur „Allgemeinen Auswandererzeitung“ griff. In den vierziger Jahren entwickelte sich Elberfeld damit zu einem publizistischen Zentrum der Ausreiseliteratur für ein Publikum, das aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen der „Heimat“ den Rücken kehren wollte.