90 Jahre in Wuppertal Als das Grauen im Gerichtssaal Einzug hielt

Wuppertal · Der Metzgergeselle Jürgen Bartsch tötete vier Jungen. In erster Instanz wurde gegen ihn am Landgericht verhandelt.

 Medienrummel am Landgericht: Jürgen Bartsch wird in Handschellen zum Prozess begleitet.

Medienrummel am Landgericht: Jürgen Bartsch wird in Handschellen zum Prozess begleitet.

Foto: dpa

Am Anfang des Berichtes über einen der aufsehenerregendsten Prozesse in der Geschichte des Wuppertaler Landgerichts muss die Erinnerung an die Opfer stehen. Klaus, Peter, Ulrich und Manfred - so hießen die acht- bis elfjährigen Schüler, die Jürgen Bartsch in den Jahren 1962 bis 1966 in einen ehemaligen Luftschutzstollen an der Heegerstraße in Velbert-Langenberg lockte, misshandelte und tötete. Ein fünftes Oper, ein Wuppertaler Junge, den er auf der Poststraße angesprochen hatte, konnte sich befreien, indem er seine Fesseln an eine Kerze hielt. Seine Aussagen brachten Bartsch ins Gefängnis Bendahl und vor Gericht.

Die juristische Aufarbeitung des Falles wurde zu einer gewaltigen Herausforderung und Bewährungsprobe für die Justiz, die Medien und die noch junge Demokratie in der Bundesrepublik. „Der Kindermörder, der Kirmesmörder, der Sexualmörder - die Bestie, das Monster Jürgen Bartsch“ - so wurde vor allem in den Boulevardzeitungen in dicken Schlagzeilen berichtet. Kaum ein Kriminalfall hat die bundesdeutsche Gesellschaft in den 1960er Jahren so aufgewühlt und beschäftigt wie der Fall Jürgen Bartsch. Schon vor dem ersten Verhandlungstag am Wuppertaler Landgericht, für den die Zuschauer an der Gerichtsinsel Schlange standen, schien festzustehen: Dieser Mann, der schon als Jugendlicher zur tödlichen Gefahr für die Nachbarkinder geworden war, durfte nie wieder in Freiheit leben. Doch wie sollten das Unheil, die Schmerzen und das Leid angemessen gesühnt werden? War Bartsch zurechnungsfähig? Konnte der Metzgergeselle mit dem Milchbubigesicht überhaupt für das Leid haftbar gemacht werden, das er über seine Opfer, deren Angehörige, Mitschüler und Freunde gebracht hatte?

Bundesweit wurde in den 1960er Jahren nach Gewalttaten an Kindern der Ruf nach Rache und der Wiedereinführung der Todesstrafe laut. Als Einzelheiten der grauenvollen Taten von Bartsch bekannt wurden, kochte die Stimmung hoch. Es gingen anonyme Attentatsdrohungen am Landgericht ein. Bartsch werde von zwei Männern auf der Anklagebank erschossen, hieß es. Mehrere Morddrohungen erhielt der Wuppertaler Anwalt Heinz Möller, der Bartsch vor dem Landgericht verteidigte.

Generalanzeiger positionierte sich klar gegen die Todesstrafe

Für den Generalanzeiger, die heutige Westdeutsche Zeitung, berichteten Max Hardt und Ernst-Andreas Ziegler vom Prozess. „Der Fall Bartsch gehört bis heute für mich zu den schlimmsten und belastendsten Erfahrungen in meinem Berufsleben“, sagt Ziegler, der den meisten Wuppertalern als späterer Leiter des Wuppertaler Presseamtes und Gründer der Junior Uni bekannt sein dürfte. „Als Jungredakteur war ich von der Redaktion beauftragt worden, über die Suche nach den vier verschwundenen Jungen zu schreiben. Als Bartsch dann festgenommen wurde, hat man mich dazu verurteilt, über die Verhandlungen zu schreiben. Ja, ich sage verurteilt, denn das was ich dort gesehen und gehört habe, hat mich zutiefst niedergedrückt, zumal ich Kinder im Alter der getöteten Jungen hatte“, so Ziegler.

Der katholische Gefängnispfarrer Werner Kettner ermöglichte Ziegler den Besuch im Gefängnis Bendahl. Pater Kettner hatte den seelischen Beistand von Bartsch übernommen, daher vertraute der ihm. „Ich habe in der Zelle einen jungen Mann vorgefunden, der noch ein halbes Kind war. Er hatte unter seinen beiden Augen offene Wunden vom Weinen und vom Reiben der Augen. Mir ist im Gespräch klar geworden, dass Bartsch schuldunfähig war. Die Natur hatte ihn nicht damit ausgestattet, Mitgefühl oder Mitleid für andere zu empfinden. Man kann doch nicht jemand schuldig sprechen, der nicht weiß, was er tun darf. Die Menschen mussten vor ihm geschützt werden, aber er gehörte nicht in den Strafvollzug.“

Ziegler schrieb im Generalanzeiger ein Plädoyer gegen die Todesstrafe - Volkes Stimme forderte hingegen „kurzen Prozess“. „Mein Kommentar hat sehr heftige Reaktionen ausgelöst. Im Rückblick bin ich froh, dass die Zeitung sich so klar positioniert hat, was bei der damaligen Stimmung nicht selbstverständlich war.“

Bartsch wurde in erster Instanz in Wuppertal im Dezember 1967 zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Im Bericht des Generalanzeigers heißt es: „Die Kardinalfragen dieses Prozesses, ob Jürgen Bartsch für seine Taten strafrechtlich voll zur Verantwortung gezogen werden kann und ob er als Erwachsener oder Jugendlicher bestraft werden muss, kamen in der Urteilsbegründung vielleicht etwas zu kurz“.

Das sah vor allem auch die Verteidigung so und legte Revision ein. Im April 1971 verhängte die Düsseldorfer Jugendkammer eine zehnjährige Jugendstrafe und ordnete Bartschs Einweisung in eine Heilanstalt in Eickelborn an. Am 28. April 1976 starb Bartsch während einer Operation. Er wurde das Opfer eines ärztlichen Kunstfehlers. Auf eigenen Wunsch hatte sich Bartsch entmannen lassen wollen - doch aus der Narkose erwachte er nicht mehr. 150 Neugierige nahmen an seinem Begräbnis teil. Darunter waren einige, die ihn mit hämischen Kommentaren auf seinem letzten Weg begleiteten.