Herr Lindh, wie hat sich Ihr Leben verändert, seit Sie Bundestagsabgeordneter sind?
Interview „Wuppertal ist der Realitätscheck, der mich wieder wachmacht“
Wuppertal · Der SPD-Bundestagsabgeordnete Helge Lindh über Streitkultur, die Berliner Glocke und warum Politik auch Scheitern impliziert
Helge Lindh ist seit 2017 für die SPD Bundestagsabgeordneter des Wahlkreises Wuppertal I. Im Gespräch mit der WZ erzählt der 46-Jährige offen darüber, warum Wuppertal ihn immer wieder aus der „Glocke des Bundestags“ herausholt, wieso er ein Praktikum bei der Ausländerbehörde macht, dass Mitbestimmung nicht nur aus dem Briller Viertel erfolgen darf und warum Politik auch die Kunst des Scheiterns impliziert. Eine Halbzeitbilanz.
Helge Lindh: Es ist unruhiger geworden, ich bin immer auf dem Sprung. Neben Wuppertal und Berlin habe ich ein drittes Zuhause, das ist der ICE. Eine Work-Life-Balance funktioniert mit diesem Mandat nicht – vor allem, da alle Krisen, die vorstellbar sind, hintereinander auf uns hereingebrochen sind. Und Krisen sind nicht abstrakt, sondern schlagen sich in den Alltag der Menschen durch. Wir sitzen nicht im Ausschuss und philosophieren vor uns hin, denn die Realität der Krise ist nicht die Tagesschau-Nachricht, sondern das Schicksal der Bürger, die damit zurechtkommen müssen.
Macht Ihnen das zu schaffen?
Lindh: Als Politiker versucht man immer, Erwartungen zu erfüllen. Politik ist aber auch die Kunst des Scheiterns auf hohem Niveau. Eigentlich habe ich ein permanent schlechtes Gewissen. Schließlich sind das, was wir machen, keine Fingerübungen, sondern davon hängen Lebenssituationen ab. Und Politik ist entgegen der Annahme nicht nur mächtig, sondern manchmal auch ohnmächtig und überschätzt sich oft.
Wie meinen Sie das?
Lindh: Die Beziehung zwischen Politik und Bevölkerung ist vielfach zerrüttet. Das Misstrauen ist aber kein dummer Trotz, sondern eine Anklage, weil viele Menschen den Eindruck haben, dass ihre Meinung keine Rolle spielt. Durch die Glocke, in der wir uns in Berlin befinden, besteht die Gefahr, dass man das Gefühl dafür verliert, was außerhalb des Bundestags abläuft. Wir können dort von morgens bis abends in den Katakomben gut verköstigt verbringen, ohne einmal draußen gewesen zu sein. Wir produzieren Gesetzgebung ohne Ende; aber ob das überhaupt wirkt, was wir entschieden haben, darauf achten in der Politik die wenigsten. Deshalb ist Wuppertal mein Korrektiv, der Realitätscheck, der mich wieder wachmacht.
Wie zum Beispiel?
Lindh: Ich werde in Kürze ein dreitägiges Praktikum bei der Wuppertaler Ausländerbehörde machen und herausfinden, wie das so genannte Gesetz zum Chancen-Aufenthaltsrecht wirkt, das ich mitverhandelt habe. Das ist eine Regelung zum Bleiberecht für Menschen, die geduldet sind, und das dabei helfen soll, dass sie dauerhaft in Deutschland bleiben können statt von Abschiebung bedroht zu sein. Wenn es in der Praxis nicht funktioniert, müssen wir noch einmal ran.
Migration und Vielfalt gehören zu Ihren Schwerpunkten. Da gibt es in Wuppertal viele Ansatzpunkte.
Lindh: Wuppertal ist laut Statistiken die Stadt mit der größten Migrationsdynamik in NRW und dem höchsten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund. Seit 2010 tausche ich mich eng mit dem ukrainischen Verein ‚Lerche‘ aus. Wir sprachen schon über die Ukraine, als sich die Welt noch nicht für das Land interessierte. Auch deshalb ist der Krieg für mich eine berührende und aufwühlende Situation, zumal viele Flüchtlinge hierherkommen.
Bei der Demonstration zur Rettung des Kaufhofs am 16. Juni standen Sie auf der Bühne in Elberfeld und waren fast so laut wie die Vertreterinnen von Verdi. Hat am Ende doch nichts gebracht.
Lindh: Aber es ist die Pflicht, das zu machen. Man muss Lärm für die Leute erzeugen, die dort arbeiten. Es ist ein Unding, dass einzelne Schicksale keine Rolle spielen. Das Geschäftsmodell von Eigentümer René Benko ist eine Ausnutzung von Mitteln des Staates und des Insolvenzrechtes. Da muss man Störfaktor sein. In anderen Städten hat es gewirkt, indem Entscheidungen zur Schließung revidiert wurden.
Sie sind auch im Bundestag als Redner gefordert. Welchen politischen Stil wollen Sie darstellen?
Lindh: Ich bin weder Schauspieler noch Darsteller. Das hilft uns nicht weiter. Mir ist wichtig, dass Parlamentsdebatten auch Auseinandersetzungen sind und nicht nur die Verkündung von Ergebnissen. Wir haben zwar viele Worte und viele davon sind mit Hass verbunden, aber eine qualitativ gute Streitkultur existiert kaum noch. Viele Menschen haben eine Meinung, die sie aber als unverrückbare Überzeugung präsentieren.
Einig sind sich hingegen alle darin, dass die Mobilität einer Transformation bedarf. Wie viel Einfluss hat die Politik darauf, ohne die Selbstständigkeit der Bürger zu unterwandern?
Lindh: Die Politik hat unter anderem Einfluss auf die Förderbedingungen, etwa zur E-Mobilität oder zur Frage, ob man die Gewichtung eher auf wasserstoffbasierte Antriebe verlegt. Das gilt auch für Vorgaben gegenüber Unternehmen: Was dürft ihr an CO2 produzieren? Wie werden Emissionen bestraft? Wir können den Menschen allerdings nicht sagen: Ändert eure Gewohnheiten, aber die Konsequenzen tragt ihr alleine. Das wäre sozial ungerecht.
Warum ist Protest immer öfter mit Radikalität verbunden? „Fridays for Future“ engagiert sich noch friedlich für den Klimaschutz, aber die „Letzte Generation“ oder auch die AfD überschreiten Grenzen.
Lindh: Die Politik hat zu lange moderiert, verschoben und abgewartet – und das ist leider ein Brandbeschleuniger für extreme Positionen. Außerdem ist die Zeit, sich etwas von der Politik vorsetzen zu lassen, vorbei. Die Menschen wollen mitbestimmen, je stärker Entscheidungen in ihren Alltag eingreifen. Diese Mitbestimmung kann aber nicht nur vom Briller Viertel und vom Toelleturm kommen, sondern muss auch Oberbarmen und Wichlinghausen einbeziehen.
Sie sitzen auf Bundesebene im Ausschuss für Kultur und Medien. Die Kultur in Wuppertal setzt sich aus vielen Institutionen zusammen und zeigt Vielfalt. Aber ist sie deswegen auch mit Sicherheit ausgestattet?
Lindh: Wir haben eine sehr agile Szene, im städtischen Theater wie auch in der freien Kultur. Gleichzeitig ist die Armut der Kultur ausgeprägt und permanent auf der Suche nach Fördermitteln. Die Stadt hat gar keine Chance, auch die freie Szene über den Haushalt zu fördern und Existenzsicherung zu betreiben. Die meisten Kulturschaffenden machen das ja nicht aus Idealismus, sondern um damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen – und da bewegt sich das Einkommen bei einem Großteil der Kulturschaffenden um 1500 Euro. Die Rettungspakete zur Coronakrise haben die Kultur geschützt. Wenn wir die nicht gehabt hätten, wäre viel weggebrochen. Aber jetzt werden die Nöte jenseits von Corona wieder sichtbar.