In Preußen dauerte es noch bis sie 1908 mit ihren männlichen Kommilitonen gemeinsam im Hörsaal sitzen durften. Bis dahin war der Abschluss einer zehnjährigen Höheren Töchterschule im größten Teilstaat des Deutschen Kaiserreiches praktisch wertlos. O-Ton des Rektor einer privaten Einrichtung im Bergischen, der die „Erziehungsideale“ seiner Anstalt in einer Sonntagsrede blumig auf den Punkt brachte: „Unser Ziel ist eine einfache harmonische Entwicklung durch Unterricht und Erziehung, welche die Mädchen befähigt, später in Haus und Familie mit offenen frischen Sinnen und klarem Blicke, frohen Mutes thätig zu sein, ein gutes Buch mit Verständnis zu lesen, das Schöne in Natur und Kunst recht zu schauen und zu würdigen und sich, gleich Goethes Prinzessin zu freuen, wenn kluge Männer reden, dass sie verstehen kann, wie sie es meinen: eine Hüterin echter Sitte, eine deutsche Hausfrau, eine gute Mutter zu werden.“
Der Erste Weltkrieg brachte die Zäsur und die bis dato kaum hinterfragte Rollenverteilung von Frauen und Männern nachhaltig aus den Fugen. Mit der Weimarer Republik begann schließlich die erste größere Phase einer Emanzipation im Alltag, und dazu zählte auch das Frauenstudium. Voraussetzung für eine Zulassung war allerdings, dass sich die Abiturientinnen zuvor einer „Reifeprüfung“ unterzogen oder erfolgreich eine „Begabtensonderprüfung“ absolviert hatten. In Preußen gab es dann noch einen vierten Weg zum Frauenstudium, nämlich im Anschluss an ein Lehrerinnenexamen. Mit anderen Worten: der akademische Weg war dornig und er dauerte zumeist sehr lange, so dass examinierte Studentinnen mit oftmals Ende zwanzig als „alte Jungfern“ belächelt wurden.
Widerspruch war selten, doch gab es frühe Pionierinnen auch im Wuppertal: Zum Beispiel die 1868 geborene Adeline Rittershaus aus Barmen. Sie zählte zu den Privilegierten der aufstrebenden Industriestadt mit illustrer Familienbande: Tochter des Dichters Emil Rittershaus, der wiederum mit Ferdinand Freiligrath befreundet war, welcher schließlich ihr Patenonkel wurde. Adeline fristete ein typisch bildungsbürgerliches Mädchendasein, zunächst auf einer Höheren Töchterschule und anschließend als Haustochter, was sich zäh bis zum 25. Lebensjahr hinzog. Erst danach bekam sie familiär grünes Licht für ein spätes Studium. Dazu bedurfte es aber eines Umwegs über die Schweiz. In Zürich machte sie in kürzester Zeit „Matura“ (Abitur) und studierte anschließend an der Universität unter anderem Philosophie, germanische Philologie und Pädagogik. Da war sie bereits 27 Jahre alt. Als sie 1898 promovierte, war sie die zweite Frau überhaupt, die das in Zürich schaffte.
Drei Jahre später tat es ihr die Elberfelder Frauenrechtlerin, Pazifistin und Autorin Helene Stöcker nach, als sie 1901 in Literaturwissenschaften promovierte. Adeline Rittershaus reiste jetzt regelmäßig nach Island, wo sie ein zweites Studium der isländischen Sprache aufnahm und einen einheimischen Lehrer heiratete: eine Ehe, die aber nur zwei Jahre hielt; dann ließ sie sich scheiden. Später scheiterte auch noch eine weitere Ehe mit dem Architekten Theodor Oberländer. Um ihre akademische Karriere fortzusetzen, bewarb sie sich an der Universität Bonn für eine Habilitation, die ihr aus seltsamen, aber zeittypischen Gründen verweigert wurde: die Mehrzahl der Bonner Professoren weigerte sich, mit einer Frau zusammenzuarbeiten – was ihr offiziell aber nicht mitgeteilt wurde. Bis 1918 hatte es überhaupt nur eine weitere Frau versucht, die Lehrbefähigung an einer deutschen Universität zu erhalten – die Zoologin Maria von Linden, die tatsächlich den Titel einer Professorin in Bonn erwerben konnte, allerdings ohne die Erteilung der „Venia legendi“ (Lehrerlaubnis). Die Habilitation gelang Adeline wiederum im inzwischen vertrauten Zürich, wo sie von 1905 bis 1920 als Privatdozentin für Neu- und Altisländische Literatur beschäftigt war. Ihre Antrittsvorlesung verlief derart spektakulär, dass der größte Hörsaal auf dem Campus hoffnungslos überfüllt war. Adeline setzte sich auch programmatisch für eine gleichberechtigte Schul- und Berufsausbildung der Frauen ein und verstand sich als eher gemäßigte Protagonistin einer bürgerlichen Frauenbewegung, die bisweilen problematische, seltsam altgermanische Frauenideale vertrat. Schwer erkrankt, bat sie nach langen Jahren der vergleichenden Forschung über isländische Märchen und Frauen in der Saga um Entlassung aus dem Hochschuldienst, bis die Vorkämpferin für das Frauenstudium 1924 in Berlin verstarb. Immerhin konnten in Deutschland Frauen ab 1920 offiziell mit Rechtsanspruch zur Habilitation als Grundlage einer wissenschaftlichen Karriere zugelassen werden. Rittershaus aus Barmen öffnete dafür die Türen.