Begrabt mein Herz in Wuppertal Ein Pazifist beim Wehrdienst
Beim Jägerbataillon musste sich Kolumnist Uwe Becker erst einmal die langen Haare abschneiden lassen.
Zu meinen größten Tugenden gehört zweifellos mein unnachgiebiger Drang, immer ehrlich zu sein. Aus diesem Grund möchte an dieser Stelle auch einmal über einen Lebensabschnitt berichten, der mich nötigte, für längere Zeit im hohen Norden Deutschlands zu leben. Ausschlaggebend für meinen Standortwechsel von Wuppertal zur Hansestadt Lübeck war das hiesige Kreiswehrersatzamt, eine Institution, die viele junge Männer heute nicht mehr kennen.
Im Jahr 1973 bat man mich in einem Schreiben, dort vorstellig zu werden, um meine Wehrtauglichkeit festzustellen. Jetzt werden sich viele von ihnen fragen, warum hat denn der Herr Becker keinen Antrag auf Wehrdienstverweigerung gestellt, er ist doch bestimmt ein Linker? Ich muss leider gestehen, dass mich Waffen immer fasziniert haben. In meiner Kindheit hatte ich zahlreiche Pistolen, Gewehre, Säbel, Schwerter und Messer.
Aus Sicherheitsgründen bestanden diese allerdings nur aus Plastik oder Gummi. An das Messer aus Gummi kann ich mich noch gut erinnern, weil ich es spaßeshalber oft meiner Oma reichte, wenn sie uns Kartoffeln schälen musste. Sie sagte dann meistens: „So ein Quatsch, du Tünnes!“
Ich glaube aber eher, dass das Scheitern meines Bruders bei seiner geplanten Anerkennung als Wehrdienstverweigerer mich dazu bewegte, es gar nicht erst zu versuchen, da ich meinen älteren Bruder für intelligenter hielt, und wenn er es nicht geschafft hat, wie sollte ich es dann hinbekommen? Nun gut, mein Bruder hat, wie ich später erfuhr, einen großen Fehler gemacht.
Im Rahmen seiner Gewissensprüfung, wurde die Frage gestellt, wie er reagieren würde, wenn seine Freundin mit einer Pistole bedroht würde, er selber aber auch ein Pistole dabei hätte. Mein Bruder hat darauf geantwortet, er hätte weder eine Freundin noch eine Pistole, daher wäre die Frage dumm.
Die Äußerung „dumm“ missfiel den Gewissensprüfern natürlich, die Frage wurde aber leicht verändert und neu gestellt: „Wenn Sie aber eine Freundin und eine Pistole hätten, was würden sie dann machen, würden sie ihre Freundin damit nicht verteidigen?“ Nach seiner Antwort auf diese Frage war klar, dass meinem Bruder jetzt nur noch ein ärztliches Attest vor der Einberufung zur Bundeswehr bewahren konnte.
Wenn mich meine Erinnerung nicht trübt, sagte er, bereits leicht resignierend, „Ich würde den Angreifer natürlich abknallen, anschließend vierteilen und verbrennen. Gefällt ihnen die Antwort besser?“ Mein Bruder musste aber trotzdem nicht zum Bund, weil er Rückenprobleme hatte.
Ich trat meinen Wehrdienst am 2. Januar 1974 an. Bevor ich zur Bundeswehr, genauer gesagt zum Jägerbataillon 172 nach Lübeck-Blankensee aufbrach, blieben mir immerhin noch ein paar freie Tage, die ich am Stück durchgefeiert habe. Der 2. Januar 1974 war ein Mittwoch, folgerichtig war Silvester am Montag und davor ja auch noch ein normales Wochenende. Mir fällt gerade auf, genau wie letztes Jahr, oder?
Am Bahnsteig im Wuppertaler Hauptbahnhof standen noch einige andere junge Männer, die mein Schicksal teilten. Ich weiß noch, wie ich am ersten Morgen, es war ein Donnerstag, einen Unteroffizier direkt fragte, wann ich denn endlich mein Gewehr bekomme. Das uniformierte Kerlchen schrie mich aber nur an, und teilte mir anschließend mit: „Jäger Becker, sie bekommen am Montag erstmal ihre Haare abgeschnitten!“
Ich hatte mein wunderschönes, schulterlanges Haupthaar absichtlich nicht schneiden lassen, da ein letzter Rest meines viel zu klein geratenen Pazifismus bis zum unumstößlichen Ende verteidigt werden musste. Tatsächlich wurden wir, die Langhaarigen, es gab noch einige andere junge Herren, die wie ich fühlten, in ein Gebäude befohlen.
In der Stube war der Boden schon einen halben Meter hoch mit Haaren bedeckt. Es war natürlich ein Montag, da hatte der Frisör eigentlich frei, verdiente sich aber so etwas dazu. Wir mussten den Schnitt auch selber bezahlen. Es war aber billig - ich glaube, fünf Mark und ein paar Zerquetschte.
Nach einer Woche hatte ich schon zwei Tage Heimaturlaub, weil meine Oma gestorben war. Nach der ersten Schießübung bekam ich drei Tage Sonderurlaub für herausragende Schießergebnisse - dabei hatte ich gar nicht gezielt und die Augen geschlossen.