Eine Idylle abseits vom Hype rund um die Fußball-WM
Während des Deutschland-Spiels hat Arne Ulbricht Mirke und Trasse fast für sich.
Elberfeld, Samstagabend, 21.10 Uhr im Wohngebiet. Schon lange ist kein Auto mehr an uns, an meiner Frau, meinem Sohn und mir, vorbeigefahren. Es ist absolut still. Warum? Ganz einfach: Deutschland spielt gegen Schweden. Wir waren gerade beim Inder (Dehli Roma), wo nicht übertragen wird und wo wir in unaufgeregter Atmosphäre wie immer hervorragend gegessen haben. Und nun schlendern wir nach Hause. Es ist übrigens nicht so, dass ich mich mit Fußball nicht auskenne, und kicken kann ich auch. Aber ich gucke mir kein Spiel an.
Und ich wünschte mir, dass mindestens zwanzig Millionen Menschen meinem Beispiel folgten, und zwar aus Protest gegen eine korrupte Fifa, den Missbrauch von Steuergeldern wegen ständiger Polizeieinsätze bei „Hochrisikospielen“, die durch nichts zu rechtfertigen Monstergehälter, dieses pubertierende Verhalten der Profi-Fußballer, die ihre Monstergehälter in Tattoo-Studios lassen und sich dicke Autos kaufen und alles Mögliche sind, aber keine Vorbilder.
Tut aber niemand. Und auch das hat einen Vorteil. Plötzlich fühlt man sich in kneipenfreien Straßenzügen wie in einem Kloster, in dem sich Großstädter von Stress und Hektik erholen. Und nun Deutschland gegen Südkorea. Der Mirker Bahnhof verzichtet aufs Public Viewing. Aus diesem Grund sitze ich hier pünktlich ab 16 Uhr. Ich befürchte, die Mirke wird für ihren Mut ein wenig bestraft: Die meisten Tische sind nicht besetzt. Immerhin bin ich nicht allein. Am Nachbartisch sitzt ein Mann, der Zeitung liest. Ein paar Tische weiter eine Frau, die in einem Buch vertieft ist. Ein Paar macht Pause vom Radfahren und gönnt sich ein Bier.
Die Mirke ist während der WM ein geradezu idyllisches Örtchen, ein kleines Paradies für all diejenigen, die sich diesem absurden Hype entziehen wollen. Und welch’ Wunder: Kaum jemand guckt aufs Handy. Es wirkt auf mich so, als möchten die meisten Mirke-Gäste diese Zeit ganz bewusst nutzen und genießen und nicht durch Zwischenstände oder Kommentare abgelenkt werden. Deshalb fühle ich mich hier so wohl. (Und deshalb hat es mir beim Inder noch besser geschmeckt als sonst.)
Während der zweiten Halbzeit fahre ich Rad. Auf der Nordbahntrasse ist, das habe ich auch nicht anders erwartet, wenig los. Als mich aus irgendeinem Fenster oder Schrebergarten der Zwischenstand erreicht — 1:0 für Südkorea — staune ich. Und noch mehr staune ich, als ich später erfahre, dass Deutschland tatsächlich ausgeschieden ist. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber damit nicht. Die Medien haben bisher über die WM berichtet, als hinge davon nicht nur die Zukunft Deutschlands, sondern auch die unseres Planeten ab. Folgerichtig fallen nun Begriffe wie Debakel, Schmach, Katastrophe, und so weiter. Nein, das war weder ein Debakel noch eine Schmach und erst recht keine Katastrophe. Deutschland ist einfach mal nicht bis ins Halbfinale gekommen, sondern schon in der Vorrunde ausgeschieden. Mehr ist nicht passiert.
Und dann erwische ich mich doch, wie ich das Ausscheiden wirklich bedauere. Denn ich habe mich auf ein Achtelfinale mit deutscher Beteiligung gefreut. Vielleicht wäre ich mal ins Kino gegangen. Oder in den Zoo. Oder mit den Kindern — meine Tochter interessiert sich auch nicht für Fußball — ins Freibad, wo es mir an heißen Tagen viel zu voll ist. Bei der nächsten EM oder WM vielleicht.