Historie Eine Familiengeschichte in Briefen
Wuppertal · Gernot Schneider hat die Korrespondenz seiner Eltern aus den Kriegszeiten zu Büchern gebunden.
Gernot Schneider (77) hat vor zehn Jahren einen Schatz gefunden: Acht Jahre im Leben seiner Eltern in Briefen, 1939 bis 1947. Diese Zeitdokumente wollte er bewahren und machte daraus zwei Bücher für seine Kinder. Ein entscheidendes Ereignis in seinem eigenen Leben fand er aber erst mit Hilfe eines anderen Buches heraus.
Die alte Tasche kannte Gernot Schneider seit seiner Kindheit. Was darin war, wusste er nicht. Nach dem Tod seiner Eltern behielt er sie. Erst als ihn 2009 Knie-Probleme länger zum Stillsitzen zwangen, untersuchte er den Inhalt näher. Und fand die Briefe, mit denen 1939 die Beziehung seiner Eltern begann.
Nach erstem Zögern hat er alle gelesen und schon nach wenigen Briefen war ihm klar, dass er sie besser zugänglich machen wollte. Er tippte sie ab, ergänzte Lücken mit eigenen Texten, fügte Fotos dazu und Dokumente, die er durch weitere Recherche vor allem über seinen Vater erhielt. Und ließ alles drucken. Die Seiten band er selbst zu zwei dicken Büchern zusammen, Band eins 826 Seiten stark, Band zwei 698 Seiten. Buchbinden hatte er in der Schule gelernt, mit Hilfe des Internets seine Kenntnisse aufgefrischt. Die Bücher sind für seine zwei erwachsenen Kinder gedacht. Die Original-Briefe und Dokumente bot er dem Bundesarchiv in Freiburg an, das sie gern nahm – als Dokumente der Geschichte „von unten“.
Die Beziehung seiner Eltern begann als Brieffreundschaft. Seine Mutter Irene Schulz hatte als 19-jährige Kaufmannsgehilfin im September 1939 wie alle Mitglieder ihrer BDM-Mädel-Gruppe an Soldaten aus Wuppertal geschrieben. Auf ihren Brief „mit den besten Heimatgrüßen“ antwortete Paul Schneider, damals 21, prompt. Der Kaufmannsgehilfe war im September einberufen, dann nach Norwegen zu einer Nachrichteneinheit verlegt worden. Bald gingen Briefe hin und her, hatten schnell einen vertrauten Ton. Die beiden berichteten sich von ihrem Alltag, von Ausflügen und Veranstaltungen.
Aus der Brieffreundschaft wurde Liebe, 1942 wurde geheiratet. Im Juli 1943 kam Sohn Gernot auf die Welt. Irene Schneider war vor den Bomben in Wuppertal ins Münsterland geflohen. Und mit dem acht Wochen alten Baby zog sie zu einer Freundin nach Schlesien, erlebte dort eine relativ friedliche Zeit.
Als die Mutter zurückkehrte,
war ihr Kind verschwunden
Insgesamt seien die Briefe sachlich, berichtet Gernot Schneider. Von Politik habe er wenig gelesen, nur manchmal kleine Bemerkungen, etwa das Hitler „toll geredet“ hätte. Den schrecklichen Bombenangriff auf Barmen habe die Mutter nur kurz erwähnt. Dabei kennt er die Erzählung, dass seine Mutter, damals ja hochschwanger, mit einem Kochtopf auf dem Kopf auf dem Speicher Funken ausschlug. Vielleicht hätten sich die Eltern bei heiklen Themen zurückgehalten, weil Feldpost geöffnet werden konnte, vermutet er.
Kurz vor Kriegsende kam es zu dem Geschehen, von dem Gernot Schneider bisher nur das wusste, was seine Mutter immer sagte: „Du bist verloren gegangen.“ Der Familienhistoriker wollte bei der alten Freundin nachforschen, bei der sie in Schlesien gelebt hatten, erhielt von deren Tochter den Tipp, dass ihre Mutter ein Buch veröffentlicht habe. Und darin ist erzählt, wie Irene Schneider einige Tage verreist war – weil sie einen Spezialisten für eine Armverletzung ihres Sohnes aufsuchen wollte. Genau dann näherte sich die Front, Frauen und Kinder wurden zur Flucht gen Westen aufgefordert. Also machte sich die Freundin mit ihrem drei Kindern zwischen ein und acht Jahren und dem knapp zwei Jahre alten Gernot auf den Weg.
Seine Mutter fand ein leeres Haus vor, als sie zurückkam, und musste sich auf die Suche nach ihrem Kind machen. Sie wusste, dass die Schwester ihrer Freundin in Berlin lebte. Dorthin schlug sie sich durch und fand ihren kleinen Jungen wohlbehalten wieder. „Als ich das gefunden habe, habe ich Rotz und Wasser geheult“, sagt Gernot Schneider. Seine Mutter hatte ihm nie davon erzählt, Briefe aus der Zeit hat er nicht gefunden. „Ja, meine Eltern haben wie überall wenig über diese Zeit gesprochen.“ Er habe auch nicht gefragt, bedauert er im Rückblick.
Sein Vater hat ebenfalls wenig erzählt, auch von seiner Zeit als Kriegsgefangener in England nicht. Davon immerhin gibt es vereinzelte Briefe an dessen Eltern. Zwischen den Zeilen ist zu lesen, dass es Paul Schneider nicht immer gut ging. Von „bösen Wochen“ berichtet er, und dass er nicht weiß, wo Frau und Kind sind. Aber es gibt ein „Erinnerungsbuch“ aus der Zeit, mit Sinnsprüchen und Zeichnungen der Kameraden, mit denen er im Lager Theater gespielt hat. Die Seiten hat Gernot Schneider digitalisiert, sie sind ebenfalls Bestandteil seiner gedruckten Familiengeschichte.
1947, nach mehreren Verzögerungen, wurde Paul Schneider entlassen und kam zu seiner Familie. „Das ist meine erste Erinnerung an ihn“, sagt Gernot Schneider. Sein Vater habe eine blaue Jacke mit den Buchstaben POW für „Prisoner of War“ – Kriegsgefangener – getragen.
Inzwischen gibt es ein drittes Buch – über die Beziehung von Gernot Schneider und seiner Frau. Aber das ist eine andere Geschichte.