Flucht nach Italien, dann Argentinien
Eva Orgler berichtet, wie sie als junge Frau 1933 ihre aussichtsreiche Stelle verlor und Deutschland verlassen musste. Ein Auszug aus ihrem Brief an Ulrich Föhse, der mit anderem Briefen demnächst als Buch erscheint.
Sehr geehrter Föhse,
in Beantwortung Ihres Schreibens betr. Anfragen vom 6.8.1982 werde ich versuchen, lang begrabene und gewiss im höchsten Grad unerfreuliche und tief traurige Erinnerungen aufzufrischen, was allerdings schriftlich ziemlich kompliziert ist, obwohl ich versuchen werde, mich an die von Ihnen angeführten Punkte zu halten.
Persönliche Daten: Mein Name: Ilse Eva Orgler, zweites Kind von vier Geschwistern. Das deutsche Konsulat in Turin, Italien, fügte obigem Namen mit roter Tinte den Namen Sara zu, der — scheinbar — aus Unwissenheit des Ursprungs, in meiner zweiten Emigration in Buenos Aires bestehen blieb, da er im Passport fingierte, also nicht mit meinem Geburtsschein übereinstimmt.
Verwandte in Wuppertal z.Zt. der Nazizeit: Eine Schwester meiner Mutter Adele Blumenthal namens Else Dahl mit zwei verheirateten Töchtern, Ilse Loew und Lore Strauss, beide mit Ehemännern und einem zweijährigen Kind ermordet; erstere, zurück in Frankreich nach einer Reise nach Kuba, besaß ein reguläres Visum von einem Konsul (Präsident Battista!) ausgestellt, wurde verhaftet und deportiert.
Eine 83-jährige Großtante, Schwester meines Großvaters Philip Blumenthal, namens Lisette Simson, ebenfalls deportiert, gezwungen, zu Fuß durch die Straßen Wuppertals ihrem Schicksal entgegen zu marschieren, wozu sich lokale Zeugen finden werden; meine Kenntnis dieser Deportierung und des Mordes beruht auf einem Brief meiner armen Mutter des Jahres 1941, hier in Buenos Aires erhalten.
Die Familie meines Vaters stammt aus Oppeln, seinerzeit Oberschlesien, der Stammbaum der Familie geht bis zum 17. Jahrhundert zurück, von einem Bruder — Alfred — meines Vaters ausgearbeitet, ebenfalls mit Familie — Frau, drei Söhnen und einem kleinen Kind eines der Söhne — in Auschwitz ermordet. Die Familie meiner Mutter stammt aus Recklinghausen, ich kenne nur oberflächliche Daten, wie Name meiner Großmutter mütterlicherseits: „Kaufmann“.
Beruf meines Vaters: Rechtsanwalt mit zirka 40-jähriger Praxis; er vertrat viele mittellose Personen jüdischer Religion, war Gemeinde- und Logen-Vorsteher, keiner zionistischen Vereinigung angeschlossen. Alle Punkte, die diesen Paragraphen betreffen, kann mein Bruder, Hans Joachim Orgler, Stockholm, konkreter beantworten, da er, als Referendar, einige Zeit im Büro meines Vaters tätig war.
Schulzeit: Im Jahr 1928 bestand ich mein Abitur, absolvierte anschließend eine Handelsschule und erhielt eine Anstellung in der „Deutschen Buchgemeinde Berlin“, die auf Grund meiner literarischen Kenntnisse eine Zukunft als Leiterin versprach, bis ich am 1. April 1933 nicht nur fristlos auf Grund meiner Rassen-Angehörigkeit entlassen wurde, sondern mich mit Hilfe meiner „arischen“ Mitarbeiter durch Flucht aus einer Nebentür retten konnte. Auf Grund dieser Entlassung und mit Nachweis geklebter Kassen-Marken erhalte ich eine monatlich auszuzahlende Staatspension.
In der Unmöglichkeit, eine neue Anstellung im gleichen Fach zu finden und die ökonomische Situation meines Vaters sich täglich zuspitzend, wanderte ich nach Italien aus, das einzige Land, wohin man kein Visum benötigte; mein Vater akzeptierte die Offerte eines Rabbiners, der der Wuppertaler Gemeinde anbot, 15 junge Mädchen in einem jüdischen Altersheim vorübergehend zu logieren, bis sie die Sprache erlernt hatten, worauf sie dann in Familien untergebracht werden sollten. Ich studierte weiter und perfektionierte mich in Sprachen, ernährte mich mit Lektionen, privat und in Privatschulen, bis mich im Jahr 1938 die zweite Emigration ergriff, durch Hitlers Einfluss auf Mussolini und daher die gleichen Rassegesetze veröffentlicht wurden.
Durch legale Hilfe einflussreicher Freunde erhielt ich in Rom eine Verlängerung meines Aufenthaltes, aber am 16. Dezember 1939 schiffte ich mich mit einem „bezahlten“ Visum auf der „SS Oceania“ nach Argentinien ein. Eine telefonische Verbindung, mich von meinen Eltern in Wuppertal zu verabschieden, wurde mir verneint. In Buenos Aires bin ich seit dem 1. Januar 1940 ansässig und besitze jetzt die argentinische Staatsangehörigkeit.
Mein persönlicher Besitz, der sich zur Zeit meiner ersten Auswanderung nach Turin im Elternhaus befand, ist den Weg des gesamten Besitztums meiner armen Eltern gegangen, wohnhaft in Barmen, Lichtenplatzerstraße 80, ein zweistöckiges Haus (...) mit großen Opfern meines Vaters erstanden, nach den Inflationsjahren 1919 und 1926, als sich die Familie vermehrte. Nachdem ich ärmlich und provisorisch in einem italienischen Altersheim untergebracht wurde, war mir nicht erlaubt, mehr als das Notwendigste an Kleidung mitzunehmen, eine beträchtliche Bibliothek mit wertvollen Klassikern, etc. etc. blieb im Elternhaus, nebst meinem persönlichen Besitz.
Ich hoffe, Ihnen (...) die geforderten Punkte beantwortet zu haben; allerdings, nachdem ich diese bewusst begrabenen Erinnerungen aus „Selbsterhalt“ aufgefrischt habe, kann ich nicht umhin zu erwähnen, dass trotz der zahllosen Freunde, die meine Eltern in allen Kreisen besaßen, da auch meine Mutter sozial tätig war und vielen Menschen Arbeit verschaffte, 90% aller meiner Klassenkameradinnen, die in meinem Elternhaus unbegrenzte Gastfreundschaft genossen, sich nicht eine einzige fand, meinen armen Eltern zu helfen, wie, im Gegenteil, in ganz Italien es viele Menschen trotz eigener Gefahr taten.
Ich stehe Ihnen für weitere Beantwortungen zur Verfügung und verbleibe mit freundlichen Grüßen
Eva Orgler