Wuppertal Franz Müntefering: „Demokratie kennt keinen Schaukelstuhl“
Franz Müntefering sprach im katholischen Stadthaus über das Älterwerden — von Individuen und der Gesellschaft.
Wuppertal. Wenn Franz Müntefering spricht, dann kommt seine Herkunft deutlich heraus. Das rollende R des Sauerlands zieht sich durch seine Sätze. Wenn er von dem Individuum als „Grundlage des Grundgesetztes“ spricht, rollt sich das R so dominant durch die Worte, als hätte er die eigens darauf abgestimmt. Dabei war seine Rede im katholischen Stadthaus am Dienstagabend nicht nur sprachlich charmant, sondern auch inhaltlich hörenswert. Der ehemalige Arbeitsminister kam auf Einladung der Spee-Akademie, um über „Kultur und Bildung als Lebenselixier“ zu sprechen.
Er stellte die Fragen „Wie wollen wir morgen leben und was können wir dafür tun?“ in den Mittelpunkt seiner 60-minütigen Rede. Müntefering, Jahrgang 1940, sprach vor einem überwiegend aus Senioren bestehenden Publikum über Wege, dem Alter zu begegnen. Kein simples Thema, wie sich herausstellte, hat das doch viele Ebenen für den Sozialdemokraten.
Es gebe das Sprichwort, dass man über das Älterwerden nicht sprechen müsse, das werde man von alleine. Das Gegenteil sei richtig, sagte Müntefering. Es werde viel zu wenig darüber gesprochen, wie es gelingen könne, gut alt zu werden. Auf persönlicher Ebene empfahl Müntefering den Gästen, sich an die „drei Ls“ zu halten — Laufen, Lernen, Lachen. „Die Bewegung der Beine ernährt das Gehirn“, ermunterte der Genosse die Anwesenden, sich im Alltag zu bewegen. Das beuge auch Demenz vor oder könne eine beginnende Demenz über Jahre in Schach halten. Sich im Liegestuhl zurückzulehnen und Kreuzworträtsel zu lösen helfe nicht.
Außerdem sei Bewegung auch das beste Mittel gegen Vereinsamung, so Müntefering. „Bewegung ist Begegnung“, ist er sich sicher. Denn viele hätten nur „Fenster und Fernseher“, dabei sei das soziale Gefüge entscheidend für die Gesundheit — zusammen mit Bildung.
Dabei spannte er den Bogen zum großen Ganzen. Denn Müntefering ging es bei seinen Fragen an diesem Abend nicht nur um die Lebensqualität älterer Menschen. Vielmehr kam er immer wieder auf die gesamte Gesellschaft zu sprechen — das Wir, das in Bewegung bleiben müsse.
„Wir“, das seien der Staat, die Politik und die Gesellschaft. Und es sei wichtig, dass sich alle ihren Kräften nach am Gelingen der Gesellschaft beteiligten. „Die Demokratie hat keinen Schaukelstuhl“, sagte Müntefering. „Jeder der fit ist, hilft mit, dass das Ding läuft“, sprach der in Herne lebende Müntefering im lockeren Ruhrpottdeutsch. Angesichts der demografischen Entwicklung spielten die Älteren eine immer größere Rolle im Zusammenhalt der Gesellschaft.
Auch wenn er nicht allzu sehr in die Tagespolitik abdriftete, so konnte man doch in Untertönen hören, was er von den aktuellen Entwicklungen hält: „Die Vernünftigen müssen aufpassen, dass nicht die Unvernünftigen das Land regieren.“ Das gelte für alte wie für junge Menschen gleichermaßen, denn es sei nicht das Alter, dass die Gesellschaft trenne, sondern Bildung, Gesundheit und Wohlstand.
Deswegen appellierte Müntefering, sich dafür einzusetzen, allen Menschen eine Chance auf Bildung zu geben. Denn sie sei maßgeblich für die Lebensqualität und -erwartung. „Denen, denen wir keine Chance auf Bildung geben, verbauen wir Lebenschancen.“ Dabei gehe es ihm um Schul-, Berufs-, politische Bildung und — „meine Mutter hätte gesagt: Herzensbildung“ — also die Bereitschaft, sich auf Menschen einzustellen und in sie hineinzuversetzen.
Das sei vor allem wichtig, weil die Flüchtlingsbewegung der vergangenen Jahre nur „der Vorläufer“ gewesen sei, von dem, was noch kommen könnte. Deswegen müsste die Entwicklung als Chance gesehen und mit Zuversicht angegangen werden.