Henning Wrogemann: „Nicht jeder Muslim ist religiös“
Wuppertaler Religionsprofessor warnt im Gespräch vor den radikalen Ansichten vieler Salafisten — aber auch vor Öberflächlichkeit beim deutschen Blick auf die Muslime
Herr Wrogemann, am 14. April haben radikal-islamische Salafisten auch in der Wuppertaler Innenstadt Korane verteilt. Hand aufs Herz: Haben Sie sich einen geholt?
Henning Wrogemann: Wenn ich die Gelegenheit gehabt hätte, dann hätte ich mir einen Koran geben lassen — und ihn anschließend mit verschiedenen Übersetzungen verglichen.
Vermuten Sie da Unterschiede?
Wrogemann: Wenigstens keine gravierenden. Der Umgang vieler Salafisten mit dem Koran ist allerdings problematisch. Sie ziehen verschiedene isolierte Koranverse heran, um ihre Positionen als allein gültig zu erklären. Dabei kennt der Islam bis ins 20. Jahrhundert eine Mehrdeutigkeit des Korans.
Der Koran ist also kein abgeschlossenes Buch?
Wrogemann: Nein, das ist ein weit verbreiteter Irrtum. Koran heißt übersetzt „Vortrag“. Das, was nach muslimischer Tradition der Engel Gabriel dem Propheten Mohammed eingegeben hat, wurde früher und wird bis heute von vielen Muslimen auswendiggelernt und immer wieder aufgesagt. Die erste Textfassung, damals noch ohne Vokalzeichen, sollte dabei nur als Erinnerungsstütze dienen. Bis vor 100 Jahren standen verschiedene Lesarten und Interpretationen des Korans einfach nebeneinander, ohne dass das von Muslimen als Problem empfunden wurde. Absolute sichere Erkenntnis, so wusste man, hat nur Gott selbst. Erst in der Moderne hat sich ein Fundamentalismus entwickelt, der als Ideologie zur Gefahr wird. Nicht das Verteilen der Korane ist meiner Ansicht nach ein Problem, sondern die Kommentare der Salafisten.
Die Koran-Aktionen waren stark umstritten — vor allem, weil Salafisten dahinter stecken. Wie schätzen Sie die Gruppe ein?
Wrogemann: Etliche Salafisten — aber bei weitem nicht alle — sind vom wahhabitischen Islam beeinflusst, einer radikalen Richtung. Wahhabiten vertreten eine Strömung im Islam, die sich zum Ziel gesetzt hat, den Islam zu reinigen. In Äthiopien habe ich miterlebt, wie wahabitische Extremisten eine volksislamische Grabanlage zerstören wollten. Die Polizei musste einschreiten. Da bekommt man Angst.
Droht Deutschland das gleiche Schicksal?
Wrogemann: Nein. In Deutschland leben momentan vier Millionen Muslime. Davon können einige tausend salafistischen Kreisen zugeordnet werden. Die Koran-Debatte ist an einem Großteil der Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland vorbeigegangen. Salafisten bedienen das Klischee, dass Muslime angeblich alles und jedes religiös sehen. Das stimmt aber nicht.
Wie meinen Sie das?
Wrogemann: Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern wird unterstellt, sie würden absolut alle Lebensbereiche an religiösen Maßstäben ausrichten wollen. Das stimmt aber nicht. Die Meinungen gehen da bei Muslimen weit auseinander. Ich würde mir wünschen, dass Menschen aus anderen Ländern in unseren Medien und in der deutschen Öffentlichkeit nicht dauernd primär religiös wahrgenommen werden. Bei einem Menschen aus Kairo zum Beispiel sprach man in der deutschen Öffentlichkeit in den 1950er Jahren als „Ägypter“, in den 1970er Jahren als „Araber“ und heute als „Muslim“. Man sieht: Da hat sich etwas in unserer Optik verschoben.
Apropos Religion: Wie positionieren sich eigentlich die Kirchen zur Koran-Debatte und Missionierung?
Wrogemann: Der Ökumenische Rat der Kirchen hat mit der Römisch-katholischen Kirche zusammen ein sehr hilfreiches Papier zum Thema interreligiöse Beziehungen und Religionswechsel herausgegeben: Es geht darum, die Freiheit von Menschen in Glaubensfragen zu respektieren.