Ihre Finger ertasten Krebs
Marie-Luise Voll (57) ist blind. Doch aus ihrem Handicap machte sie einen Beruf: als Tastuntersucherin in der Brustkrebsvorsorge.
Wuppertal/Duisburg. Die Diagnose traf Marie-Luise Voll völlig unerwartet. Eigentlich war die damals 50-Jährige nur zum Augenarzt gegangen, weil sie eine neue Brille brauchte, doch nach der Untersuchung stand fest: Die Wuppertalerin hat Grünen Star - eine schwere Erkrankung der Sehnerven, die zur Erblindung führen kann. Für Marie-Luise Voll, die in ihrer Freizeit am liebsten stundenlang in der Uni-Bibliothek schmökerte, eine Katstrophe. Medikamente verlangsamen den Krankheitsverlauf, und Marie-Luise Voll, die im Altenzentrum Augustinusstift als Pflegerin arbeitet, verdrängt die Gedanken daran, dass es tatsächlich einmal soweit kommen könnte. "Man geht ja nicht vom Schlimmsten aus", sagt sie heute.
Doch ihre Sehkraft lässt immer mehr nach, bis sie schließlich selbst mit einer Lupe nicht mehr lesen kann. Ihren Beruf als Krankenschwester muss sie 2006 aufgeben. "Wie es weitergehen soll, wusste ich nicht. Hoffnung auf einen neuen Job hatte eigentlich nicht mehr." Die Arbeitsagentur schickt sie zur Reha ins Berufsförderungswerk Düren, eine Einrichtung für blinde und sehbehinderte Menschen. Dort lernt sie, mit ihren Fingern die Blindenschrift zu lesen und mit ihrem Handicap umzugehen. Doch nicht nur das: Dort hört sie auch von einem Pilotprojekt, bei dem blinde Frauen zu Medizinischen Tastuntersucherinnen (MTU) ausgebildet werden, um in der Brustkrebsvorsorge eingesetzt zu werden.
Neun Monate dauerte die Ausbildung, bei der die Tasterinnen lernen kleinste Auffälligkeiten im Brustgewebe zu ertasten. Entwickelt wurde die Methode von dem Duisburger Gynäkologen Frank Hoffmann, der als Projektleiter in seiner Praxis auch einen Praktikumsplatz zu Verfügung stellte. "Eigentlich wollte ich nicht nach Duisburg, aber im Bergischen gab es eine solche Stelle nicht", erzählt Marie-Luise Voll.
Im Mai 2008 hat sie ihren ersten Arbeitstag in der Gemeinschaftspraxis. "Mir war ziemlich flau. Doch schon bei ersten Patientin war die Nervosität verflogen." Marie-Luise Voll wird schnell zu einer Institution in der Praxis. Aus ganz NRW kommen Frauen, um sich von Mary-Lou, wie ihre Kollegen sie liebevoll nennen, abtasten zu lassen. Mittlerweile ist sie festangestellt, lebt unter der Woche in einem Apartment über den Praxisräumen. "Anfangs bin ich noch gependelt, aber das ging irgendwann nicht mehr."
Täglich hat sie bis zu acht Patientinnen - manche kommen zur Vorsorge, manche waren bereits an Brustkrebs erkrankt. Die Frauen fühlen sich wohl bei Mary-Lou, die mit einer inneren Ausgeglichenheit, wie man sie heute selten spürt, ihre Arbeit macht. Mit Zeige- und Mittelfinger tastet sie mit sanftem Druck, Zentimeter für Zentimeter, das Gewebe ab. Dabei orientiert sie sich an Klebestreifen, die die Brust in verschiedene Zonen einteilt. "So wird genau dokumentiert, wo ich was gefühlt habe", erklärt Marie-Luise Voll. Denn, darauf besteht sie, "ich stelle keine Diagnosen. Das macht der Arzt."
Und das macht vielleicht auch den Unterschied aus: Marie-Luise Voll nimmt sich Zeit für die Frauen. Zeit, die viele Ärzte nicht haben. "Wenn die Frauen wieder kommen, ist das die schönste Bestätigung", sagt sie.