Bildung In der Leistungsverweigerin steckt ein hilfsbereites Mädchen

Wuppertal · Lieselotte Winnacker-Spitzl erinnert sich an eine deutliche Wandlung.

Der Umgang mit Tieren kann positive Eigenschaften fördern.

Foto: Patrick Pleul/dpa/Patrick Pleul

Ja, tatsächlich: „Putz doch selbst, du Schlampe!“ So reagiert die Schülerin Lena auf die Anweisung ihrer Lehrerin, etwas aufzuputzen. Nur Ärger mit Lena: Leistungsverweigerung, Widerspruch gegen alle Anordnungen, Schwänzen, Provokationen, Schlägereien, sogar tätliche Angriff. Aktenkundig und vielsagend: „Lena ist unfähig, aus einer authentischen Mitte heraus in sozialen Interaktionen zu bestehen. Ihr intrinsischer Leistungsanspruch ist ungenügend. Die Qualität ihrer Arbeit ist indiskutabel.“

Lena ist in der Sonderschule für Erziehungshilfe gelandet, die heute „Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung“ heißt. Offensichtlich hat das ihre Auffälligkeiten gefördert. Wie sollten sie auch in einem Umfeld abgebaut werden können, in dem sie normal sind? Der Einfluss der Peergroup ist groß, wer noch nicht aufsässig genug ist, wer noch Nachhilfe braucht beim Klauen, Lügen oder Erpressen, der lernt es hier.

Seit einiger Zeit nimmt Lena an einem Projekt unseres Kinderhauses Luise Winnacker teil: „Nimm die Zügel in die Hand“. Die Mädchen werden von unseren Lehramtsstudentinnen, die Pferdeexpertinnen sind, von der Schule zum Pferdehof gebracht. Lena hat während der Woche Brot, Möhren und Äpfel gesammelt, die sie fürsorglich und gerecht verfüttert.

Die anfängliche Scheu und der Respekt vor den großen Tieren werden nach kurzer Eingewöhnung und begierigem Lernen abgelöst durch liebevollen Umgang mit den Pferden. Das Lieblingspferd wird regelrecht verwöhnt. Sogar Arbeiten wie Ställe ausmisten, Mist wegfahren, Stallgasse kehren usw. werden nach anfänglichem Murren wie selbstverständlich ausgeführt. Offensichtlich tut die körperliche Arbeit gut und baut Stress ab.

Lena hat keinen Zugang zu Sportvereinen und lehnt auf Grund negativer Erfahrungen Sport und körperliche Anstrengungen überhaupt ab. Aber Pferde, Reiten, Voltigieren und das Leben auf dem Hof üben eine so große Faszination aus, dass sie sich trotz der ungewohnten motorischen Anstrengungen nicht entmutigen lässt und beharrlich übt.

Wie alle Mädchen der Schule hat Lena kaum Naturerfahrungen. Staunend steht sie vor einer blühenden Kastanie und hält sie für eine Tanne. Sie verfolgt fasziniert, wie Schwalben im Stall Nester bauen oder ihre Brut füttern. Wie viel gibt es zu beobachten und kennenzulernen in einer Lebenswelt, die ihnen bisher verschlossen war.

Die Mädchen genießen es, die Pferde auf die Weide zu führen oder sie durch die Düssel zu reiten, die durch das Gelände fließt. Ich bin tief beeindruckt von der Verwandlung, die hier stattfindet. Sicherlich hat sie den Mädchen gezeigt, dass sie auch eine andere Seite haben, und hilft ihnen, ein anderes Selbstbild aufzubauen.

Verstärkt wird dies durch eine Besonderheit des Projekts: Auf dem Pferdehof findet auch Reittherapie für körperbehinderte Kinder statt. Besonders Lena kann hier viele positive Eigenschaften ausleben, indem sie hilft: Pferde fertigmachen, führen, kleinere Hilfestellungen geben, zur Stelle sein, wo sie gebraucht wird.

Sie, die sonst nur Missachtung und Geringschätzung erlebt hat und aggressiv darauf reagiert, erfährt hier eine besondere Wertschätzung: „Was ist das für ein außergewöhnlich hilfsbereites und aufmerksames Mädchen! So freundlich und fürsorglich,“, so die Mutter eines behinderten Kindes zur Therapeutin.

Leider kam Lena nicht lange in den Genuss des Projekts. Sie wurde auf Grund ihres schulischen Verhaltens an eine andere Wuppertaler Sonderschule abgeschoben. Der Kontakt zu ihr ging verloren.