Die Welt als Bühne Interaktive Theatertour irritiert Passanten in Wuppertal (mit Video)
Wuppertal · 40 Menschen mit Kopfhörern fangen an zu tanzen oder machen eine La-Ola-Welle. Das war alles Teil des Audiotheaters „Remote Wuppertal“ von „Rimini Protokoll“.
40 Menschen stehen auf dem Evangelischen Friedhof in Sonnborn vor der Trauerkapelle. Alle tragen Kopfhörer und einen Empfänger am Gürtel. Die Stimme, die uns in den nächsten zwei Stunden auf einem ungewöhnlichen Spaziergang durch Wuppertal begleiten wird, nennt uns „die Horde“ und stellt sich als Julia vor. Sie klingt wie ein Navigationssystem und bittet uns zunächst, ein Grab auszuwählen. Die Teilnehmer schwirren aus, angeleitet von meditativer Musik und von Fragen, die zur Selbstreflexion motivieren: „Was bleibt, wenn sich niemand mehr an dich erinnert?“
Die bizarre Szene ist der Auftakt des Audiotheaters „Remote Wuppertal“. In Zusammenarbeit mit dem Berliner Künstlerkollektiv „Rimini Protokoll“ und dem entstehenden Pina-Bausch-Zentrum hatte der bizarre Rundgang am Donnerstag Premiere.
Irritation der Passanten
ist den Teilnehmern sicher
„Du bist einzigartig, aber das Ende des Weges ist für alle gleich.“ Wir bilden einen Trauerzug. Wir fotografieren uns vor einem Verkehrsspiegel. Am Zoostadion imitieren wir ein Openair-Ballett und machen ein Wettrennen. Alles nur, weil die Künstliche Intelligenz uns dazu auffordert. Oder besser gesagt: fremdsteuert.
Spätestens als wir in Form eines „Flashmobs“ rückwärts durch die Fußgängerzone gehen und Gegenstände in die Luft halten, wird klar: Das ist hier ein doppeltes Stück. Am Anfang wirkten die Passanten wie Akteure und die Orte und Gebäude wie die Kulisse einer nicht geschriebenen Geschichte, die wir beobachten. Mit der Zeit wechselt jedoch die Wahrnehmung: Wir selbst sind die Darsteller, während die Umgebung uns dabei zuschaut. Die Irritation der Passanten und Fahrgäste ist uns jedenfalls sicher. Was ist das? Ein Sozialexperiment? Eine Stadtführung? Verstehen Sie Spaß? In der Schwebebahn fragt ein Junge: „Warum macht ihr das? Seid ihr Kopfhörermenschen?“
Am Ende der Tour stehen wir vor dem alten Schauspielhaus an der Bundesallee, haben einen Apfel auf dem Kopf, als wären wir Protagonisten der nächsten „Wilhelm Tell“-Inszenierung – und tanzen. Ganz zum Schluss gibt es eine Überraschung. Aber die bleibt geheim.
„Es ist kein didaktisches Stück, das Leuten etwas beibringen soll“, sagt Jörg Karrenbauer von Rimini Protokoll. Stattdessen gehe es auf experimentelle Weise um die Fragen, wie Menschen funktionieren und wie berechenbar sie sind. Die Inszenierung gab es unter anderem schon in New York, Lissabon und Santiago de Chile, jeweils angepasst an die Stadt.
Entgegen der Erwartung mancher Besucher ist sie allerdings kein Stationstheater, bei dem aus dem Nichts Schauspieler oder Tänzer auftauchen; stattdessen entsteht der „Flow“ über die Audiospur und in Anlehnung an Shakespeares berühmtes Zitat, die ganze Welt sei eine Bühne.
„Am Anfang habe ich mich zu stark angeleitet gefühlt und durch die Kopfhörer hermetisch abgeriegelt, getrennt vom echten Leben“, sagt Tine Lowisch. „Zwischendurch brauchte ich auf jeden Fall eine Pause.“ Zum Beispiel im futuristischen Ambiente der Kirche St. Remigius, in der die Teilnehmer kurz innehalten konnten: „Wer bin ich? Warum bin ich hier? Und was kommt danach?“ Mit der Zeit sei jedoch ein Gruppengefühl entstanden und die Motivation, keinen Befehl zu verpassen, schildert Lowisch. „Ich kenne in Wuppertal jeden Stein, aber der Rundgang hat mir neue Perspektiven gezeigt.“
Ein verlorener Ort wird
zum Ziel der Stadttour
Das Projekt ist nicht nur als kulturelles Erlebnis gedacht, sondern dient auch als Startschuss für das neue Pina-Bausch-Zentrum, das 2027 im Gebäude des Schauspielhauses eröffnet werden soll. „Wir wollen die Stadt von Vohwinkel bis Oberbarmen vereinen und das Haus wieder beleben“, sagt Bettina Milz, Koordinatorin des neuen Zentrums.
So erhalten die Besucher der Tour auch einen seltenen Einblick in die Baustelle des Theaters, das ohne Zuschauer, Kulturschaffende und Techniker sowohl außen als auch im Innern noch wie ein „verlorener Ort“ wirkt.