Kolumne Kinder müssen sich auch mal den Arm brechen dürfen

WZ-Kolumnist Uwe Becker hält nichts von Helikopter-Eltern.

Foto: Joachim Schmitz

Zu Beginn der Jahrtausendwende besuchte ich mit meinem kleinen Sohn regelmäßig Abenteuerspielplätze. Becker Junior favorisierte Klettergerüste in unvorstellbarer Höhe, bei deren Anblick ich schon weiche Knie bekam. Meine Sicherheitshinweise: „Bitte sei vorsichtig!“, „Nicht so schnell!“ und „Pass auf!“ erreichten ihn in schwindelerregender Höhe oft gar nicht. Eine Mutter gab mir den Tipp: „Sie dürfen ihre Angst nicht auf das Kind übertragen, das ist gefährlich“, und so schwieg ich fortan bei den halsbrecherischen Aktionen meines Erstgeborenen.

Die Frau hatte natürlich recht, Kinder müssen auch mal auf die Nase fallen und sich den Arm brechen dürfen, das tut zwar weh, macht aber hart und hilft ihnen dabei, spätere Gefahrensituationen besser einschätzen zu können. Außerdem wollte ich ja auch nicht zu diesen Helikopter-Eltern gehören, die sich ständig in der Nähe ihrer Kinder aufhalten, um diese zu überwachen und zu behüten. Dieser Erziehungsstil ist geprägt von zum Teil paranoider Überbehütung und exzessiver Einmischung in die Angelegenheiten des Kindes. Man muss Kinder auch mal unbeaufsichtigt lassen, das stärkt ihr Selbstbewusstsein, und die Eltern können sich in aller Ruhe mal streiten oder ins Kino gehen.

Kürzlich las ich über die Vorkommnisse am St. Anna-Gymnasium auf dem Ölberg, wo sich schon länger Anwohner über die sogenannten Helikopter-Eltern beschweren, die ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringen und hierdurch ständig für ein kleines Verkehrschaos sorgen, statt die pubertierende Brut mal in Linienbusse zu verfrachten, damit sie wissen, wo es lang geht.

Ich bin in den 60er Jahren zur Schule gegangen, das war kein Zuckerschlecken. Ich erinnere mich an meinen ersten Schultag, als mir meine Eltern die bunte Schultüte überreichten, mir einen Kompass in die Hand drückten und befahlen: „Der Kompass zeigt immer nach Norden, deine Schule liegt im Süden, wenn du andere Kinder mit Schultüten siehst, dann folge ihnen. Bis heute Mittag dann, und pass schön auf!“

Mein Vater wurde mit 18 Jahren in den 2. Weltkrieg geschickt, und seine Eltern konnten ihn damals auch nicht mit dem Auto dort hinfahren. Meine Erziehungsberechtigten waren immer bemüht, meinen Bruder und mich zu selbstständigen Menschen zu erziehen, die auch in schwierigen Situationen einen klaren Kopf behalten.

Ein prägendes Erlebnis hatte ich zum Ende des 1. Schuljahres. Nach dem Frühstück dachte ich zunächst, wir würden „Blinde Kuh“ spielen, weil mir meine Mutter mit einem schwarzen Seidenschal die Augen verband und mich dreimal im Kreis drehte. Sie führte mich dann aber aus der Küche bis zur Wohnungstür und meinte: „Du kennst den Schulweg nun ganz genau, nimm den Schal erst wieder ab, wenn du auf dem Schulhof bist.“ Da ich auf dem Weg dorthin zwei gut befahrene Straßen überqueren musste, war es auch eine große Mutprobe, die ich aber mit Bravour bestand.

Dieses Erlebnis hat mich stark gemacht und war eine hilfreiche Lektion für mein späteres Leben. Man kann von meinen Eltern und ihren bizarren Erziehungsmethoden nun halten, was man will, aber Helikopter-Eltern waren sie ganz bestimmt nicht. Und dafür bin ich ihnen heute noch sehr dankbar.