Türkei-Festival an den Bühnen: Seltenes für europäische Ohren
Im Opernhaus fällt heute der Startschuss zum großen Türkei-Festival. Opern-Intendant Johannes Weigand verrät, weshalb die Vorbereitung nicht einfach war.
Herr Weigand, weshalb feiern die Wuppertaler Bühnen die Kultur der Türkei?
Joghannes Weigand: Trotz einer großen Zahl türkischstämmiger Menschen in Wuppertal und Deutschland überhaupt ist die türkische Kultur hier zu großen Teilen völlig unbekannt. Das ist sehr schade, da sie sehr spannend und facettenreich ist. Es gibt eine hochkomplexe, über Jahrhunderte entstandene und gewachsene Kunstmusik, die von Komponisten aller Volksgruppen des Osmanischen Reiches geschaffen wurde — von Türken, Armeniern, Griechen und Juden. Aber auch im Sultanspalast wurde komponiert und musiziert.
Weigand: Jeder Sultan erhielt eine Ausbildung in Komposition. Auch die Frauen des Harems hatten im Rahmen ihrer Allgemeinausbildung Gesangs- und Instrumentalunterricht. Im 19. Jahrhundert begann sich das Osmanische Reich der westlichen Musik zu öffnen. Viele neue Impulse bereicherten die osmanische und ab 1923 türkische Kunstmusik bis heute. Neben der reichen Kunstmusik gibt es die unendlich vielfältige Volksmusik der unterschiedlichen Volksgruppen des Landes. So ist die türkische Musikkultur ein großer Schatz und bietet uns unbekannte Hörerlebnisse. Wir wollen etwas von dieser Vielfalt in Wuppertal vorstellen — für interessierte Deutsche, aber natürlich auch für Türken, die hier nur selten Gelegenheit haben, höfische Musik aus der Zeit um 1800 von Interpreten aus Istanbul zu hören.
Bei der Premiere des Stücks „Das goldene Vlies”, einer deutsch-türkischen Koproduktion, waren zuletzt ungewöhnlich viele türkische Zuschauer im Opernhaus. Wie wichtig sind Migranten als Zielgruppe für die Wuppertaler Bühnen?
Weigand: Wir wünschen uns natürlich, dass jeder Wuppertaler die Bühnen besucht, unabhängig von Gesellschaftsschicht, Bildungshintergrund oder Nationalität. Die Zuwanderer sind ein wichtiger Teil der Wuppertaler Bevölkerung, den wir gerne bei uns sehen. Und die größte Gruppe der Zuwanderer in Wuppertal ist türkischstämmig. So haben wir versucht, mit dem „Goldenen Vlies“ eine Produktion zu schaffen, die gleichermaßen für unsere traditionellen Besucher wie auch für Menschen interessant ist, die beim Thema Theater sonst eher Berührungsängste haben.
Nun dreht sich ein ganzes Festival um interkulturelle Begegnungen. Vor allem auf musikalischer Ebene soll es „Brückenschläge“ geben. Was genau unterscheidet die osmanische Klangwelt von der europäischen?
Weigand: Die türkisch-osmanische Musik ist zum allergrößten Teil einstimmig. Ein starker Schwerpunkt ist die Melodie, die nicht nur in Ganz- und Halbtonschritten fortschreitet, sondern auch weit kleinere Teiltöne verwendet. Daraus ergibt sich eine weitaus größere Fülle an melodischem Material als in der mitteleuropäischen Musik. Eine bestimmte Aneinanderreihung dieser Töne ergibt ein unserer Tonleiter im Aufbau entsprechendes Makam, wovon es allerdings aufgrund der viel größeren Melodie-Variabilität mehr als 500 in der türkischen Kunstmusik gibt. Zusätzlich existieren rhythmische Strukturmuster, die neben dem Makam jede Komposition festlegen.
Das klingt kompliziert — zumindest für europäische Ohren.
Weigand: Ja, mitteleuropäische Musik funktioniert harmonisch mit der Schichtung von Klängen übereinander, während türkische Musik — ähnlich wie die gregorianische — melodisch, also an der horizontalen Linie entlang gedacht ist. Dies ist für unsere ungeübten Ohren zunächst ungewöhnlich. Wenn man sich aber einmal eingehört hat, entdeckt man eine unglaubliche Fülle unterschiedlicher Klänge.
Wie einfach oder schwer war die Suche nach passenden Stücken und Noten?
Weigand: Die Suche war einerseits sehr einfach, da heute fast alles irgendwo im Internet auftaucht, so dass man merkt, was für eine unglaubliche Variationsbreite an möglicher Musik vorhanden ist. Andererseits ist die konkrete Suche nach Notenmaterial sehr schwierig, da es in der Türkei bisher kein Musikverlagswesen wie in Deutschland gibt und die meisten Stücke nur in Handschriften bei den Nachkommen des Komponisten oder bei Liebhabern der Musik zu finden sind.
Welche Auswirkungen hat das?
Weigand: Ein großer Teil der Kompositionen liegt deshalb nur in Handschriften vor, die Experten — wie zum Beispiel der Würzburger Musik-Ethnologe Ralf Martin Jäger — entschlüsseln und transkribieren. Mit ihm arbeiten wir in dieser Spielzeit eng zusammen. Er wird im Rahmen des Türkeifestivals ein Gesprächskonzert zu osmanischer Musik moderieren. Für das Konzert am 20. Mai in der Immanuelskirche mit dem Kanun-Virtuosen Rûhî Ayangil transkribiert er Stücke von Tanbûrî Isak, die dann zum ersten Mal in Deutschland zu hören sein werden.
Zum Abschluss des Festivals kommen Sie selbst zum Zuge und sorgen für eine Uraufführung. Wie spielt sich die Zusammenarbeit mit Ali N. Askin ab?
Weigand: Ali N. Askin hat sein Musiktheater zusammen mit unserem Dramaturgen Johannes Blum konzipiert. So war die Zusammenarbeit von Beginn an ziemlich eng und direkt. In dem Augenblick, da er noch letzten Schliff an die Komposition legt, kommunizieren wir telefonisch und über Internet — manchmal mehrmals täglich.
Was schätzen Sie an ihm?
Weigand: Askin hat als preisgekrönter Filmmusikkomponist ein untrügliches Gespür für die Szene. So ist er für meine szenischen Ideen, die sich fast unwillkürlich aus seiner Kompositionsweise ergeben, außerordentlich offen. Das macht ungeheuer viel Spaß.
Der Türkei-Schwerpunkt soll in der kommenden Spielzeit in die Verlängerung gehen. Auch dann ist eine Uraufführung zu erwarten: Es entsteht ein neues Stück über Wuppertal. Was ist daran „typisch“ türkisch?
Weigand: Zu den beiden großen türkischen Produktionen der nächsten Spielzeit zählt in erster Linie die deutsche Erstaufführung von Selman Adas Märchenoper „Ali Baba und die 40 Räuber“ — sie ist die bekannteste zeitgenössische Opernkomposition in der Türkei. Außerdem bereiten wie die Erstaufführung des Oratoriums „Nazim” für Sänger, Sprecher, Chor und Orchester von Fazil Say vor. Die Kammeroper über Wuppertal hat den Elberfelder Aufstand von 1849 zum Inhalt. Türkisch — oder zumindest türkischstämmig — sind die Autoren: der junge türkische Komponist Enver Yalçin Özdiker und der Textautor Feridun Zaimoglu. Ich bin gespannt auf ihren Blick auf diesen Stoff.