Kinderhaus Luise Winnacker Schon mal angespuckt worden?
Wuppertal · Lieselotte Winnacker-Spitzl erinnert sich, wie sie Zugang zu einem schwierigen Schüler fand.
Sonderschule für Erziehungshilfe. Ich habe Aufsicht auf dem kleinen, viel zu kleinen und trostlosen Schulhof mit der hohen Mauer. Zwei Halbstarke prügeln sich. Ich gehe dazwischen und bringe sie auseinander. Einer der beiden spuckt mich an, er spuckt mich hasserfüllt an, zum Glück nur auf meinen Anorak. Eine harte Nummer! Ich bin total empört und melde dem Klassenlehrer den Vorfall. So etwas hatte ich noch nie in meinem Lehrerdasein erlebt. Die pädagogische Maßnahme: Samy bekommt eine Klassenkonferenz! Ich nehme an, dass ihn dies nicht sonderlich interessieren wird.
Ich habe lange über das Geschehen nachgedacht. Mit dem Jungen hatte ich nie vorher zu tun. Er kannte mich gar nicht. Warum spuckte er mich an? Wollte er mit dem Spucken vielleicht seinen Hass ausdrücken? Auf die Schule, in die er so täglich spürbar ausgesondert war? Auf die Lebensumstände, unter denen er gezwungen war zu bestehen? Auf die Gesellschaft, in der nur ein ziemlich chancenloser Platz für ihn war?
Ich beschloss, ihn zu beobachten: Manchmal konnten die Schüler die Pause auch auf dem nahegelegenen Spielplatz verbringen. Dann brachte Samy sein teures Crossrad mit und zeigte damit waghalsige Kunststücke. Ich klatschte Beifall und fragte die Jungen um mich herum: „Habt ihr das gesehen? Toll, was?“ Aus seiner Richtung kamen einige Obszönitäten an meine Adresse, die ich überhörte. So ging es mehrere Pausen. Die Obszönitäten blieben weg und es war offensichtlich, dass er seine Kunststücke gerne in meiner Nähe vorführte.
Schließlich fragte ich ihn ganz spontan: „Kannst du nicht mal mit deinem Rad in unsere Basketball AG kommen und deine tollen Kunststücke zeigen?“ Verblüfftes Zögern, dann: „OK mach’ ich, aber nur, wenn ich meine Freunde mitbringen darf.“ Mittlerweile hatte ich erfahren, dass er Anführer einer Jugendgang war. Kurzes Schlucken: „Ja, bring die mit, wenn die auch so gut sind wie du.“
Und dann kam der spannende Augenblick: Die Jungs kamen nachmittags tatsächlich zur verabredeten Zeit mit ihren kostbaren Crossrädern an und zeigten in der Halle den Basketballern ihre Kunststücke, wieder und wieder. Nein, sie zeigten nicht nur, sie gaben Tipps, ließen die anderen Schüler auf ihren Rädern ausprobieren und zwar souverän und geduldig.
Eine Stern- und Lehrstunde für mich! Und einer der ganz, ganz seltenen Momente im Leben dieser ausgesonderten jungen Menschen, ihre andere Seite zu zeigen, ihr berechtigtes Verlangen nach Anerkennung und Wertschätzung einmal erfüllt zu erleben. Samy hatte das Gefühl, wichtig zu sein. Er hatte einen Menschen erlebt, der ihn in seinen Stärken wahrgenommen und gewürdigt hat. Das sollte doch selbstverständlich sein und ein Studium braucht man auch nicht dazu.
Dann gab es keine Probleme mehr zwischen ihm und mir. Er freute sich, wenn er mich sah und umgekehrt genauso. Eines Tages war er weg. Ich blieb zurück, um die Erfahrung reicher: „Zu jedem Schüler gibt es einen Weg!“
Es ist an dieser Stelle müßig, die vorhandenen Erkenntnisse über jugendliche Gewalttäter aufzuzählen und jugendliche Gewalt als Verlierersymptom zu bezeichnen. Uns scheint die Einsicht dafür zu fehlen, dass es wichtig ist, politisch aktiv zu werden. Hinter jugendlicher Gewalt verbergen sich fehlgeleitete Potentiale, die darauf warten, erkannt, gefördert und wertgeschätzt zu werden, um sie zum Nutzen und nicht zum Schaden der Gesellschaft einbringen zu können.