Kommentar Ruckredner gesucht
Fast genau 23 Jahre ist es her, dass der damalige Bundespräsident Roman Herzog im Berliner Hotel Adlon zum Volk sprach. So eine Ruckrede scheint nun Wuppertal dringend nötig zu haben. Aber weit und breit ist niemand, der im Stande zu sein scheint, sie zu halten.
Fast genau 23 Jahre ist es her, dass der damalige Bundespräsident Roman Herzog im Berliner Hotel Adlon zum Volk sprach. Sein Auftritt ging als Ruckrede in die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ein. Herzog forderte Besinnung auf die eigenen Stärken, er forderte Anstrengungen auf fast allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens, er warb dafür, Miesepetrigkeit durch Aufbruchstimmung zu ersetzen.
So eine Ruckrede scheint nun Wuppertal dringend nötig zu haben. Aber weit und breit ist niemand, der im Stande zu sein scheint, sie zu halten. Also nehmen die Dinge weiter ihren Lauf. Im Rathaus herrscht Ratlosigkeit, keine Baustelle funktioniert, in der Stadt röchelt die Schwebebahn ihrer nächsten Betriebspause entgegen, während noch nicht im Ansatz geklärt ist, wie die bis zu 80 000 Fahrgäste danach transportiert werden sollen. Wuppertal scheint im Moment von allen guten Geistern verlassen zu sein. Das Ergebnis ist ein Rechtsamtsleiter, der den gesamten Betrieb lahmlegt, in dem er Ratsentscheidungen der vergangenen Jahre für potenziell unwirksam erklärt. Davon fühlt sich ein St.-Florians-Verein motiviert, der mit allen Mitteln verhindern will, dass auf einer großen Fläche Bauland Häuser entstehen dürfen. Dabei sind Stadt und Politik den teils berechtigten Interessen der Anwohner bereits deutlich entgegengekommen. Aber es ist nicht genug. Es ist immer nicht genug.
Deshalb funktioniert Wuppertal nicht. Weit vor Roman Herzog hat ein US-Präsident einmal Bemerkenswertes von sich gegeben. Das ist in jüngerer Vergangenheit ja auch nicht mehr selbstverständlich. Aber John F. Kennedys Hinweis darauf war klug, nicht immer nur zu fragen, was das Land für den Bürger tun kann, sondern auch einmal umgekehrt zu denken. Denn es war keine Aufforderung, alles einfach zu schlucken, was Obrigkeiten von sich geben. Es war vielmehr die Erinnerung daran, dass Gesellschaften nur in Gemeinschaft funktionieren können. Zusammenleben bedeutet, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Übersetzt heißt das, dass öffentliche Verwaltungen und städtische Tochtergesellschaften die Pflicht haben, mit den Mitteln behutsam und sparsam umzugehen, die ihnen von den Bürgern überlassen werden.
Für die Bürger heißt es, kompromissbereit zu sein. Vieles, das der Mehrheit Nutzen bringt, kann für einen Einzelnen Einschränkungen bedeuten. Diese Einschränkungen in Grenzen zu halten, ist Aufgabe von Politik und Verwaltung, die begrenzten Einschränkungen zu tolerieren, darf und muss Mitgliedern einer Stadtgesellschaft abverlangt werden können.
Von all dem ist derzeit in Wuppertal rein gar nichts zu sehen. Ein Rechtsamtsleiter auf Ego-Trip, Bauland-Anrainer, die nach dem Motto zu handeln scheinen, dass an alle gedacht ist, wenn jeder an sich selbst denkt, Aufsichtsgremien, die alles tun, außer Aufsicht zu üben – die Folgen sind unübersehbar. Und sie wirken nach. Sie wirken nach, weil sie die Entwicklung dieser Stadt dadurch behindern, dass Wuppertal immer noch zu wenig tun kann, um zahlungskräftige Neu-Bürger anwerben zu können, und sie wirken nach, weil sie viel Geld und viel Reputation kosten.
Deshalb braucht es dringend einen Ruckredner. Wuppertal hat jemanden nötig, der die Finger in die Wunden legt, der Fehler benennt und Auswege aufzeichnet. So kann diese einst stolze Stadt nicht weitermachen. Das ist zu wenig, es ist zu wenig für jene, die sich immer noch jeden Tag um Fortschritt bemühen, es ist zu wenig für all die Menschen, denen diese Stadt, deren Geschichte und deren Zukunft viel bedeuten.
Auch die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass Wuppertal viel mehr kann. Die Zeichen dafür sind längst nicht nur die Junior Uni und die Nordbahntrasse. Aber beides sind Zeugen für Innovations- und Tatkraft. Es ist höchste Zeit, dass die Stadt des Elberfelder Systems, der Barmer Erklärung, der Schwebebahn, der Erfinder, Gründer, Dichter und Denker daran anknüpft.