Soziales Pflicht zur Barrierefreiheit: Wuppertal hat Nachholbedarf

Beim Transformationstandem wurde der Nachholbedarf in Sachen barrierefreie Mobilität in Wuppertal deutlich.

7,8 Millionen Bundesbürger haben einen Schwerbehindertenausweis. Gerade für Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ist Barrierefreiheit ein wichtiges Thema. Symbolbild: Soeren Stache

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Ab Januar 2022 besteht eine gesetzliche Pflicht zur Barrierefreiheit. Beim Transformationstandem wurde der Nachholbedarf in Wuppertal deutlich. Ende Mai fiel das Transformationstandem zum Thema barrierefreie Mobilität wörtlich ins Wasser, am Dienstagabend wurde der Termin nachgeholt. Prof. Dr.-Ing. Ulrike Reutter, Professorin für öffentliche Verkehrssysteme und Mobilitätsmanagement an der Uni Wuppertal, und Sandra Heinen, Inklusionsbeauftragte der Stadt Wuppertal, erinnerten in ihren Vorträgen daran, dass nicht nur Menschen mit dauerhaften Behinderungen auf Barrierefreiheit angewiesen sind.

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Die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen unterteilt in Mobilitätsbehinderte im engeren und weiteren Sinne. Ein schwerer Koffer kann nach dieser Unterscheidung ebenso zur Behinderung werden wie eine körperliche oder kognitive Einschränkung. Auf diese Bandbreite Rücksicht zu nehmen, sei eine Frage der Infrastruktur, vor allem jedoch der Haltung des Systems gegenüber den Betroffenen, erklärte Ulrike Reutter. Sie verwies auf die klaren Rechtsgrundlagen zur Gleichstellung von Menschen mit und ohne Behinderung — ein Paragraph, der erst 1994 ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Ein entscheidender Zusatz folgte 2013: Bis zum 1. Januar 2022 sind alle deutschen Städte verpflichtet, Barrierefreiheit zu gewährleisten.

Ulrike Reutter betonte, vor allem bei der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs bestehe häufig Handlungsbedarf, angefangen bei der Zugänglichkeit der Haltestellen bis hin zur Ausstattung der Fahrzeuge. „Das funktioniert nicht zum Nulltarif, das Ganze kostet Geld“, räumte Reutter ein. Barrierefreiheit sei jedoch ein Thema, in das sich die Gesellschaft zu investieren trauen müsse. Es gehe schließlich nicht darum, ganze Städte umzubauen, sondern Kompromisse zu finden, teilweise auch zwischen verschiedenen Betroffenen: Während Gehbehinderte sich möglichst ebene Wege wünschen, sind Sehbehinderte zur Orientierung auf Bordsteinkanten und Markierungen durch verschiedene Bodenbeläge angewiesen.

Sandra Heinen setzt sich als Inklusionsbeauftragte für Barrierefreiheit in Wuppertal ein. Das Überwinden von Barrieren koste Zeit und schränke somit die Selbstbestimmtheit der Betroffenen ein, beschreibt sie die Relevanz der Thematik. Die besondere Topografie der Stadt sei zwar eine Herausforderung für die Umsetzung, der Bedarf läge jedoch auf der Hand: Zehn Prozent der Wuppertaler Bevölkerung seien behindert, betonte Heinen. Das entspräche 38 569 Menschen — und das seien nur diejenigen, die einen Schwerbehindertenausweis beantragt haben. Darüber hinaus seien bei 18 Prozent ausländischer Staatsangehörigkeiten auch sprachliche Barrieren nicht zu vernachlässigen.

Die Stadt sei auf Hinweise und Ideen von Betroffenen angewiesen, so Heinen. Auf dem Portal wheelmap.org können Orte hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit bewertet werden. Ein Kriterium ist das Zwei-Sinne-Prinzip: Wenn ein Sinn eingeschränkt ist, muss der Ort oder die Information mindestens über einen weiteren Sinn zugänglich sein. Um dafür ein Bewusstsein zu schaffen, hat Sandra Heinen bereits Bauplaner mit Rollstuhl oder Sehbehinderungsbrille und Langstock ausgestattet und Wege testen lassen. „Wenn man das einmal selbst erlebt hat, muss man nicht mehr diskutieren.“ Auf die provozierende Frage des Moderators Oscar Reutter, ob sich dieser Aufwand für zehn Prozent der Bevölkerung lohne, formulierte Sandra Heinen ein klares Schlusswort: „Für mich stellt sich die Frage nicht. Barrierefreiheit ist schlicht und einfach ein Menschenrecht, das man immer wieder einfordern muss.“

Das Transformationstandem unter dem Thema „Zukunftsfähige Mobilität in Wuppertal“ wurde in diesem Jahr zum dritten Mal vom Forschungszentrum TransZent veranstaltet. An sechs Terminen beleuchteten je ein Vertreter aus Wissenschaft und Praxis Themen wie Elektroautos, autofreie Innenstädte und die Mobilität von Geflüchteten. 2019 soll die Reihe fortgesetzt werden.