Bürgerbeteiligung „Die Parteien können die Menschen nicht mehr an sich binden“

Prof. Dr. Hans J. Lietzmann von der Bergischen Universität ist Mitglied im Beirat des Bürgerrats Demokratie.

In Leipzig tagt der erste bundesweite Bürgerrat. Dazu wurden 160 Teilnehmer aus dem gesamten Bundesgebiet per Los ausgewählt. Sie wollen darüber diskutieren, was der Demokratie fehlt und wie man sie voranbringen kann.

Foto: dpa/Hendrik Schmidt

Demokratie - heißt das, alle paar Jahre wählen zu gehen und kurz eine Stimme zu haben, um dann vier, fünf Jahre zusehen zu müssen? Oder kann das auch heißen, dass Bürger sich kontinuierlich beteiligen? Prof. Dr. Hans J. Lietzmann, Politikwissenschaftler der Bergischen Universität Wuppertal und Leiter des Instituts für Demokratie- und Partizipationsforschung (IDPF), ist im Beirat des Bürgerrats Demokratie. Darin befassen sich 160 Bürger mit unserer Demokratie und diskutieren darüber, welche Möglichkeiten und Herausforderungen es zukünftig gibt, diese zu gestalten.

Herr Lietzmann, die Demokratie ist in der Krise. Warum?

Lietzmann: Es herrscht eine zunehmende Skepsis gegenüber Parteien, gegenüber politischen Beschlüssen, aber auch gegenüber richterlichen Urteilen. Das hat mit verschiedenen Entwicklungen zu tun. So haben zum Beispiel alle Ideenvereine - Kirchen, Gewerkschaften, Parteien - Schwierigkeiten, weniger Mitglieder.

Woran liegt das?

Lietzmann: Die Menschen sind selbstständiger, besser ausgebildet. Ausbildung macht einen großen Unterschied, weil die Bürger nicht mehr darauf angewiesen sind, dass ihnen ein Kanzler wie Ludwig Erhardt sagt, was Sache ist. Dass die Menschen sich eine eigene Meinung bilden, macht es den Parteien schwierig.

Inwiefern?

Lietzmann: Die Parteien können die Menschen weniger an sich binden. Das ist ganz anders als früher, als Arbeiter fast automatisch SPD gewählt haben, Beamte die CDU und Selbstständige die FDP. Die Bürger treffen heute eher selbst spezifische Entscheidungen und setzten sich dafür ein - wie beim Umweltschutz oder der Seilbahn in Wuppertal. Die Individualisierung führt aber auch zur gegenteiligen Entwicklung.

Die Sehnsucht nach Autoritäten, die Wahlerfolge der AfD?

Lietzmann: Wir wissen ziemlich genau, dass zum Beispiel in Ostdeutschland, aber auch in provinzielleren Gegenden im Westen Menschen leben, die sich von dieser Individualisierung überfordert und gestresst fühlen. Sie sehen keinen Vorteil in dieser Dynamik, den offenen Grenzen. Sie wollen unter sich bleiben. Früher hätten sie sich in den konservativen Flügeln der SPD und CDU gefunden, heute wählen sie AfD. Das ist eine Ausdifferenzierung oder Pluralisierung innerhalb des Parteiensystems, wie früher bereits zu den Grünen und den Linken.

Was kann man tun, um das System zu stabilisieren?

Lietzmann: Was auffällt, ist, dass es von ganz links bis ganz rechts den Ruf nach mehr direkter Demokratie, nach mehr Beteiligung gibt. Da treffen sich die Pluralisierung - „das nehme ich selbst in die Hand“ - und die Vorstellung einer Welt, die nicht grenzenlos und weltoffen sein soll. Das Bedürfnis nach Beteiligung kommt von beiden Seiten, mit unterschiedlichen Vorzeichen.

An welche Beteiligungsverfahren wird da gedacht?

Lietzmann: Da gibt es die direkte Demokratie; auch von oben angeordnete Plebiszite wie beim Brexit. Oder die Bürgerbefragung bei der Seilbahn. Das sind für mich ausdrücklich keine Bürgerbeteiligungsverfahren. Und dann gibt es noch Beteiligungsverfahren, die auf gemeinwohlorientierte Diskussionen setzen – wie jetzt zum Beispiel der Bürgerrat.

Der Bürgerrat, was ist das?

Lietzmann: Der Bürgerrat Demokratie ist ein Beteiligungsverfahren auf Bundesebene. 160 Teilnehmer wurden per Zufallsverfahren ausgewählt – und zwar sehr repräsentativ in Bezug auf Alter, Geschlechterverteilung, Bildung, Einkommen und Verteilung Stadt/Land. Die Gruppe ist damit erheblich repräsentativer als die, die zur Wahl geht. Diese Gruppe trifft sich gegenwärtig zwei Wochenenden lang in Leipzig und soll der Politik helfen, Wege aus der Demokratiekrise zu finden, Verfahren entwickeln, die für mehr Legitimität der Entscheidungen sorgen.

Wie funktioniert das?

Lietzmann: Erst einmal durch die zufällige Auswahl der eingeladenen Beteiligten. Das bedeutet, dass keiner mit vorgefertigten Interessen in diese Diskussion geht. Denn normalerweise sind gewählte Politiker in solchen Prozessen mit Interessengruppen vertreten – Gewerkschaften, Unternehmerverbänden. Beim Bürgerrat werden die Teilnehmer zudem von Experten sorgsam informiert. Bei Bürgerentscheiden hingegen – Brexit, Seilbahn – stimmen die Menschen allein mit dem Wissen, das sie in sich tragen, ab. Beim Bürgerrat aber arbeiten Menschen mit Expertenwissen an gemeinwohl-orientierten Lösungen.

Das Projekt ist eines des Vereins „Mehr Demokratie“ und der Schöpflin-Stiftung, keines der Regierung. Welche Reaktionen bekommen Sie aus der Politik?

Lietzmann: Die Ergebnisse werden am Tag der Demokratie, am 15. November, in Berlin an Wolfgang Schäuble, Präsident des Deutschen Bundestags, übergeben. Darüber hinaus waren Menschen wie Bodo Ramelow, Andrea Nahles Schirmherren der vorherigen Regionalkonferenzen. Und Günther Beckstein, ehemaliger bayrischer Ministerpräsident, haben wir als Leiter der Gesprächsrunden gewinnen können. Die Politik ist auf unserer Seite. Das Verfahren und das, was dabei herauskommt, sollen ja auch keine Konkurrenz zu Bundestag, Regierung und Parteien sein.

Was wünschen Sie sich, was herauskommt?

Lietzmann: Als Beirat begleiten wir das Verfahren, aber nehmen keinen Einfluss. Was ich persönlich aber gut fände, wäre, wenn es wie in Wuppertal Leitlinien für Beteiligungsverfahren auf kommunaler Ebene geben würde. Auch würde ich mir wünschen, dass es öffentliche Gelder oder eine öffentliche Koordination für Beteiligungsverfahren geben würde, damit Geld keine Hürde mehr für die Verbesserung der Demokratie sein müsste. Damit könnte man Verfahren verstetigen und aus der puren Freiwilligkeit herausholen.