Kriegsende in Wuppertal Schreckliche acht Tage von Dresden bis Wuppertal

Hans Posse erinnert sich, wie er im Mai 1945 als Zehnjähriger zu Fuß heimkehrte.

Foto: Anna Schwartz

Wuppertal. „Ich habe einfach nur gegrinst.“ Hans Posse (80) strahlt noch heute, wenn er sich an den Moment erinnert, als er im Mai 1945 als Zehnjähriger wieder in der heimischen Küche stand. Acht Tage war er unterwegs gewesen, hatte sich mit seiner acht Jahre älteren Schwester Dorothea, genannt Dorli, von Dresden bis Wuppertal durchgeschlagen. Anschaulich kann er von seiner Odyssee erzählen.

Im Oktober 1944 hatte er die Stadt verlassen, mit der Kinderlandverschickung. Zehn Kinder gehörten zur Familie, er war der sechste. Eine Schwester wurde auch verschickt, aber in ein anderes Lager. Also saß der Neunjährige allein mit fremden Kindern im Zug, fuhr ins KLV-Lager Großhartmannsdorf in Sachsen an der tschechischen Grenze.

Dort gab es Unterricht, Wanderungen, Sport. Anfangs auch Briefe von zu Hause, später nicht mehr. „Wir hatten ständig Heimweh“, sagt Hans Posse. Und sie hungerten. „Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Dass nicht nur eine Mahlzeit ausfällt, sondern dass es jeden Tag zu wenig gibt“, betont er.

Einmal kam ihm der Krieg ganz nah: Zu viert zogen sie einen Bollerwagen mit Broten für das Lager durch den Wald. Und hörten das Brummen nahender Tiefflieger. Blitzschnell warfen sich die Jungen in den Graben. „Wir hörten das ,Ratatata’ durch den Bollerwagen.“ Danach waren der Wagen zerschossen, die Brotlaibe zerstoben.

Auch die Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945 bekamen sie mit. Sie hörten die Bomber hinfliegen — „das dröhnte fürchterlich!“, sahen den roten Schein am Himmel 40 Kilometer entfernt, hörten die Gespräche der Erwachsenen. Besonders viel Sorgen machte sich Hans Posse um seine Schwester Dorli, die in Dresden arbeitete.

Wochen später tauchte sie auf organisierte sie die gemeinsame Heimkehr. Doch der Start ging erst einmal schief. In Freiberg, 30 Kilometer von Dresden, wollten sie sich treffen und verpassten sich. In einer abenteuerlichen Aktion sprang Hans Posse auf einen rollenden Güterzug Richtung Dresden, fragte sich in der Stadt zur Adresse seiner Schwester durch.

Dann brachen sie nach Westen auf. Zu Fuß, manchmal mit dem Zug, auf Heuwagen, per Bus oder Lkw. Sie schlossen sich einer Gruppe Frauen an. „Ein Glück, dass sie uns mitgenommen haben“, so Posse. Er als Kind sei ja ein Klotz am Bein gewesen. Sie schliefen auf Bauernhöfen, im Stroh oder auf dem nackten Boden. Manche gaben ihnen zu essen, manche jagten sie davon.

Ein besonderes Problem war, dass er kaum etwas bei sich behielt. Aus Hunger verschlang er alles Essbare, musste es dann wieder von sich geben. Erst später ist ihm klargeworden, welche Sorgen sich die Schwester um ihn gemacht haben muss und was er ihr verdankt.

An der Grenze der russisch besetzten Zone hatten sie ihr schlimmstes Erlebnis. Schleuser sollten sie über die grüne Grenze führen. Nach zwei Stunden Fußmarsch entließen sie sie, angeblich im Westen. Doch dann trafen sie russische Soldaten.

Zwei packten eine der Frauen und verschwanden mit ihr im Wald. Schweigend warteten die anderen. Als die Frau dreckverschmiert und mit zerrissenen Kleidern zurückkam, fragte der Junge erschrocken, was ihr passiert sei. Einer Frau gelang es, ihn abzulenken. Immerhin durften sie weiter Richtung Heimat laufen. Die malträtierte Frau sprach kein Wort mehr.

Das letzte Stück bis Wuppertal fuhren Hans und Dorli mit dem Zug. Dort fuhr sogar die Straßenbahn noch, vom Hauptbahnhof Elberfeld bis zum Viehhof, wo die Familie wohnte. „Dorli war total erschöpft“, erzählt Hans Posse. Die Schwester blieb an der Haltestelle, schickte ihn vor. Sie konnte nicht mehr.

Hans lief die Treppe hinauf, klopfte an die Tür. Seine Mutter öffnete — und erkannte den dreckigen abgemagerten Bengel erst gar nicht. Der da stand und einfach nur grinste.