Sprachgewaltiger Text, der sich fast von selbst schrieb

Linda Boström Knausgård mit „Willkommen in Amerika“ bei der Literatur Biennale.

Foto: Andreas Fischer

Als Torsten Krug im vergangenen Jahr das schmale Buch von Linda Boström Knausgård las, war ihm klar: „Das passt sehr gut zum Thema der Literatur Biennale #SchönLügen.“ Eine Erkenntnis mit Folgen: Ist der Wuppertaler Autor doch ein Organisator des Festivals, das die Stadt derzeit in ein Mekka der Bücherfreunde verwandelt. Am Donnerstag hieß er die schwedische Autorin im Café Ada willkommen, zusammen mit der bekannten Schauspielerin Julia Wolff und dem langjährigen Wuppertaler Hochschuldozenten für Skandinavistik, Wolfgang Butt.

„Willkommen in Amerika“ heißt das Buch — „Välkomna i Wuppertal“ begrüßte ein begeisterter Wolfgang Butt die 1972 geborene Lyrikerin Boström Knausgård. Die Ex-Frau des bekannten Schriftstellers Karl Ove Knausgård brachte ihren ersten ins Deutsche übersetzen Roman mit, der ihr zum internationalen Durchbruch verhalf und den Wuppertalern einen wunderbaren Abend bescherte, ohne dass ein Wort über den Norweger fiel, der bekanntlich den Knausgårdschen Familienalltag minutiös auf Tausenden von Seiten entblößt hat.

Autobiografische Züge hat auch die Geschichte, die Linda Boström Knausgård erzählt, weil sie die widerstreitenden Gefühle aus der eigenen Kindheit als Tochter einer Schauspielerin übernommen „und nur aufgeschrieben habe, wie es war“. Wolfgang Butt dankte ihr für die feingewobene Geschichte um die elfjährige Ellen, die in einer „heilen“ Familie aufwächst. Die Geschichte um Sehnsucht nach Befreiung und Angst vor Ablösung bietet ein vielfältiges Wechselspiel zwischen Lüge und Wahrheit, Fiktion und Selbstbetrug. #SchönLügen auf vielen verschiedenen Ebenen.

Da ist die erfolgreiche wie launische Mutter, die Schauspielerin ist und deren Rolle in Franz Kafkas „Amerika“ Pate für den Buchtitel stand. Sie drängt den aggressiv-depressive Vater aus der Familie. Als er stirbt, fühlt sich Ellen schuldig, weil sie sich von Gott seinen Tod gewünscht hat. Während sich ihr großer Bruder zurückzieht, verstummt sie, kann über ihre Schuldgefühle nicht sprechen, verweigert sich dem Erwachsenwerden. Ein Kräftemessen mit der Mutter beginnt, weil Ellen merkt, dass sie durch ihr Schweigen Macht über die alles geliebte und dominante Person gewinnt.

Die 46-jährige Autorin erzählt die Geschichte aus der Sicht des Kindes nicht linear in Richtung einer Lösung, sondern flächig, mit einem offenen Ende. Sie erweist sich als Meisterin der knappen, bilderreichen wie atmenden Sprache, die durchscheinen lässt, dass sie als Lyrikerin perfekte rhythmische Satzfolgen zu Texten gewohnt ist. Der Aufbau entspricht einem Kammerspiel — mit begrenztem Personal in begrenztem Raum, mit der Reflektion des Mädchens im Vordergrund und der (gedachten) Sprache als Medium und Energie. „War es schwierig, das Mädchen den Leser direkt ansprechen zu lassen, obwohl es das Schweigen beschlossen hat?“, will Butt wissen. Nein, antwortet Knausgård, nach dem ersten Satz habe sich das Buch von selbst geschrieben.

Während Moderator und Übersetzer Butt seine Kenntnis des Buches zu tiefgreifenden Fragen an die Autorin nutzte, bewies Julia Wolff in mehreren Lesepassagen die hohe Kunst des einnehmenden Vorlesens. Karl Ove soll gesagte haben, Linda sei die größere Schriftstellerin. Stimmt.