Wuppertal Tag der Arbeit: Überholte Tradition oder hochaktuell?

Rudolf Dreßler (SPD) über gesellschaftlichen Wandel und den Tag der Arbeit.

Foto: Stefan Fries

Wuppertal. Unser Land hat sich verändert - bei weitem nicht nur zum Positiven, gesellschaftlich nicht, moralisch nicht. In bestimmten Kreisen sind die Ellenbogen heute zum wichtigsten Instrument des gesellschaftlichen Fortkommens geworden und die Gier nach immer mehr zur eigentlichen Antriebsfeder des Handelns. Die Begriffe „Sozialstaat“ und „soziale Gerechtigkeit“ stehen im Zwielicht, werden in weiten Kreisen unserer Gesellschaft als Hindernis gegen eine notwendige dynamische Entwicklung betrachtet.

Die ehedem gemeinsam akzeptierte Pflicht der Politik, für sozialen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit zu sorgen, wird heute weitgehend geleugnet oder gar abgelehnt. Da wird gefordert, die Instrument der solidarischen Sicherung, unsere Sozial-versicherung, müsste auf die eigentlich Bedürftigen beschränkt werden. Welch ein Quatsch. Ein Solidarsystem, das nur aus Bedürftigen besteht, das gibt es nicht.

Eine Krankenversicherung nur für Arme und Kranke, eine Pflegeversicherung nur für Alte und Pflegebedürftige, was soll das sein? Wie soll sich das finanzieren? Vor allem aber: Was soll das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun haben? Nein, Solidarsysteme, die funktionieren sollen, benötigen auch diejenigen, die Solidarität leisten. An dieser Stelle berühren wir einen Kern der Forderungen am „Tag der Arbeit“, dem 1. Mai: „Mehr soziale Gerechtigkeit!“ Wir alle erwarten, dass unsere Löhne und Gehälter ausreichen um unseren Lebensunterhalt finanzieren zu können: Nahrung, Wohnung, Bildung, Freizeit, Urlaub. Die eine oder andere Anschaffung, das eine oder andere Vergnügen.

Wir alle wissen, dass uns niemand diese Erwartungen in Form von Einhunderteuroscheinen als Geschenk erfüllt. Wir müssen dafür arbeiten, in vielen Fällen bis an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit. Und wir erwarten, dass sich Löhne und Gehälter jährlich mit der Inflationsrate erhöhen und auch um mehr als das, damit sich unser Lebensstandard steigert. Genau so wird es von Gewinnen erwartet oder von Kapitaleinlagen.

Jene, die nicht arbeiten können oder nicht mehr arbeiten müssen, erwarten diese Entwicklung bei Rentenzahlungen und bei Unterstützungsleistungen. Verbesserungen bei der Entwicklung von Löhnen und Gehältern, bei der Rente oder der Krankenversicherung, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Weiterentwicklung von Tarifverträgen, kurz: die Verbesserung unserer Lebensbedingungen sind der Mittelpunkt aller Reden, aller Demonstrationen, aller Kundgebungen am Tag der Arbeit. Intellektuell sind wir mit den Forderungen weitestgehend einig.

Aber zum öffentliche Bekenntnis dieser intellektuellen Einigkeit fehlt es vielen an Entschlossenheit. Dabei ist eine Erkenntnis durch die Geschichte bewiesen: Unser Lebensstandard wäre erheblich geringer, wenn die vielen Tausend ihre Stimme am 1. Mai und darüber hinaus nicht erheben würden. Es ist wahr: Solidarität ist ein gesellschaftlicher Wert und kein ökonomischer. Aber man kann es nicht eindringlich genug formulieren: Wir müssen uns der Durchökonomisierung aller Lebensbereiche entschlossen in den Weg stellen.

Die Ökonomie muss dem Menschen dienen, sie darf ihn nicht beherrschen. Eine Gesellschaft, das ist mehr als die Summe der guten Geschäfte, die sich in ihr erzielen lassen. Der Markt ist unverzichtbares Organisationsprinzip für das wirtschaftliche Geschehen. Ordnungsprinzip für unsere Gesellschaft aber, das kann er nicht sein. Unsere Gesellschaft wird nicht von Rentabilitäten oder Zinsfüßen, von Angebot oder Nachfrage zusammen gehalten, sondern von Werten, von Moral, von Humanität und Mitmenschlichkeit. Der 1. Mai als „Tag der Arbeit“ kann insoweit keine überholte Tradition sein. Er ist hoch aktuell.