Von der unendlichen Suche nach der einen Wahrheit
Schauspiel Wuppertal führt Neil LaButes „Zur Mittagstunde“ im Theater am Engelsgarten auf.
Es könnte jeden treffen: In Zeiten von Terroranschlägen und Amokläufen, auf Charlie Hebdo und in Toronto, sind Alptraumerlebnisse nicht weit. Ein Lügner, wer behauptete, er wisse damit umzugehen. John Smith überlebt als einziger einen Amoklauf, während 37 Menschen sterben. Seither beherrscht ihn die Frage nach dem Warum, nach dem Warum ich, nach dem Sinn. John Smith, Protagonist in Neil LaButes Theaterstück „Zur Mittagsstunde“, findet seine Antwort: Gott hat ihn auserwählt, um Gutes zu tun. Im Gespräch mit sich selbst und anderen soll geklärt werden, ob hier wirklich aus einem rücksichtslosen Mann ein charismatischer Verkünder, aus einem Saulus ein Paulus wurde. Eine endgültige Antwort auf die Frage nach der Wahrheit gibt auch das Schauspiel Wuppertal nicht. Am 5. Mai ist Premiere im Theater am Engelsgarten.
Der US-Amerikaner Neil LaBute, Jahrgang 1963, schrieb „Zur Mittagsstunde“ 2010. Das vielschichtige Psychogramm eines Größenwahnsinnigen kreist um Urfragen wie Leben und Tod, Glaube, Lebensgestaltung, Lüge und Wahrheit und ist zugleich ein Krimi. 2011 kam das Stück in München erstmals auf eine deutsche Bühne, in Wuppertal ist es jetzt so weit. Hier soll sich die „extreme Selbstinszenierung eines Menschen“, so Intendant Thomas Braus, in das Prinzip der Spielzeit einfügen, als weitere Variante des Begriffs Spiel.
„Der Autor befragte sich selbst, ob er sich mit knapp 50 noch mal neu erfinden könne“, führt Dramaturgin Barbara Noth ein, „und lässt seinen Protagonisten sein Umfeld abklappern, um es von seinem Neustart zu überzeugen“. Dabei wird er von seinem Vorleben sowie ganz profanen Fragen nach Beweis und Tat eingeholt. Kann sich jemand radikal ändern? Muss er das beweisen oder darf man ihm einfach glauben, weil der Gottesbeweis Antwort genug ist?
Regisseurin Schirin Khodadadian schwärmt für LaButes (durchaus humorige) Sprachbehandlung und Dialogführung, die Erwartungshaltung an ein Gespräch und Zustandekommen eines Gesprächs transportiere: „Immer, wenn man glaubt, zu verstehen, kommt eine Wende.“ Begriffe verschieben sich, der Zuschauer wird hin- und hergerissen. Kann etwas Schlimmes wie das Foto einer verstümmelten Frau, das Smith aus purer Sensationslust am Tatort schießt, auch etwas Gutes haben, wenn mit seiner Vermarktung Geld erwirtschaftet wird, das anderen hilft?
Der Aufbau des Stücks entspricht ineinander geschachtelten Klammern: Anfang und Ende bestreitet John Smith allein, hält einen Monolog ins Publikum, holt es in die Suche nach der Wahrheit ab und entlässt es wieder. Dazwischen spiegelt er sich im Gespräch mit Anwalt und Inspektor und mit vier Frauen — Exfrau Ginger, Talkshowmoderatorin Jenny, Ex-Geliebte Jesse und Gigi, Tochter eines Opfers. Dargestellt werden alle diese Personen, die schablonenartig übereinanderliegen, von drei Schauspielern: Thomas Braus als John Smith, Stefan Walz als Anwalt und Inspektor sowie Philippine Pachl, die die Frauen mimt. Schirin Khodadadian erklärt: „Über die Antagonisten erfahren wir entweder Varianten seiner Geschichte oder nur andere Perspektiven.“
Carolin Mittler unterstützt dies durch Kostüme, die aus einander herauswachsen, so wie die Gesprächspartner Smiths Gedanken entsteigen können. Dessen Kleidung wiederum ist die des Durchschnittsbürgers. Gleichwohl soll es viel glitzern und funkeln — wozu Lichtdesign (Christian Franzen) und Musik (Katrin Vellrath) beitragen. Gilt es doch die Erleuchtungen des von Gott Erwählten in Szene zu setzen. Dafür baut Mittler auch eine Bühne (ein Podest) auf der Bühne, für die Selbstbespiegelung Smiths.
Bleibt LaButes Frage: Welche Sicherheit haben wir, dass unsere Wahrheit die (echte) Wahrheit ist?