Bergische Universität Spracherwerb funktioniert nur durch Integration
Romanistin Prof. Natascha Müller über die Chancen frühkindlicher Mehrsprachigkeit für unsere Gesellschaft.
Wenn sich ein bilingual deutsch-englisch erzogenes Kleinkind von zu Hause mit den Worten verabschiedet: „Ich geh mal zum playground“, muss das bei Eltern und Erziehern nicht gleich die Alarmglocken auslösen. „Es dauert vielleicht ein halbes Jahr länger“, erklärt die Sprachwissenschaftlerin Prof. Natascha Müller von der Bergischen Universität, „aber wenn die Kinder dann fünf Jahre alt sind, wird man sehen, dass sie kompetente, mehrsprachige Personen sind.“
Den Lehrstuhl für Romanische Sprachen hat die gebürtige Lübeckerin seit 2004 inne, sie beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema der frühkindlichen Mehrsprachigkeit. Dabei untersucht sie französische, spanische und italienische Kinder mit zwei oder drei Muttersprachen im Kindergartenalter. Gemischtsprachliche Äußerungen, das sogenannte Code-Switching, gelten dabei in der Sprachwissenschaft als ein besonderer Sprachstil, über den manche sagen, er verwirre die Kinder in ihrer sprachlichen Entwicklung.
„Das hört man immer wieder“, sagt die Wissenschaftlerin. „Wir haben in Studien Kinder von anderthalb bis zu fünf Jahren alle 14 Tage per Video aufgenommen und festgestellt, dass diese Mischungen, die uns als Erwachsene und auch als Linguisten sehr ins Auge fallen, nur zu etwa fünf Prozent bei mehrsprachigen Kindern vorkommen.“ Als Vergleich führt sie an, dass wir uns selbst in unserer eigenen Muttersprache zu fünf Prozent versprechen. Bei mehrsprachigen Kindern falle es nur besonders auf.
In den Untersuchungen, die Müller durchgeführt hat, habe sie im Gegenteil festgestellt, dass beispielsweise deutsch-spanische Kinder, die von einer bilingualen Erwachsenen, die ihre Sprache ständig gewechselt habe, angesprochen wurden, immer einsprachig geantwortet hätten. Wenn Kinder systematisch gemischtsprachlich angesprochen würden, dann reagierten sie nicht verwirrt, sondern sie wählten eine Sprache und interagierten mit dem Erwachsenen. „Sie mischen nicht zurück. Daher vermute ich auch eine ganz klare Sprachtrennung, die schon im Kindesalter vorhanden und nachweisbar ist. Man kann sagen, dass die bilingualen oder auch trilingualen Kinder rigider in der Sprachwahl sind als wir Erwachsene.“
Gerade bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern kommt es vor, dass sie ein Wort, das sie in der einen Sprache nicht kennen, in der anderen ausdrücken. Kritiker sagen, dass dabei die Grammatik auf der Strecke bleibe. „Auch das haben wir untersucht“, sagt Müller, „es ist eher so, dass die bilingualen Kinder nicht immer die Wörter beider Sprachen gleich schnell aktivieren können. Aber sie kennen das Wort. Nun ist Kommunikation schnell. Es ist manchmal so, dass sie nicht schnell genug auf das Wort in der gerade gewünschten Sprache der Erwachsenen zurückgreifen können.“ Auch die Grammatik bei gemischtsprachlichen Äußerungen untersuchte sie systematisch und stellte fest, dass sie meist automatisch, instinktiv und intuitiv angewandt werde.
1997 startete Müller eine auf fünf Jahre angelegte Studie mit mittlerweile 48 Kindern, woraus sich die weltweit größte Datensammlung über mehrsprachige Kinder entwickelt hat, die in der Wuppertaler Romanistik verwaltet wird. „Wir haben einzigartige Sprachkombinationen, Kinder, die spanisch-französisch, italienisch-spanisch oder französisch-italienisch erwerben. Das geht eigentlich nur über enge Kontakte zu Freunden oder Eltern“, erklärt die Linguistin.
In der Gesellschaft gibt es bis heute existierende Vorurteile gegenüber der frühkindlichen Mehrsprachigkeit. Das liege unter anderem daran, erklärt Müller, dass unterschiedliche Sprachen einem gewissen Sozialprestige unterliegen; das sei auch wissenschaftlich belegt. Gegenüber uns nahestehenden Sprachen, die zum Teil auch unserem Bildungssystem zuzurechnen sind, existierten wenig Vorurteile. Dagegen seien Sprachkombinationen wie deutsch-türkisch, deutsch-polnisch oder deutsch-russisch eher mit dem Vorurteil behaftet, dass diese Kombinationen im Spracherwerb Probleme bereiten. Besonders in der Schule etablierte Sprachen sind bekannter und suggerieren einen Vorteil.
Ein Grund für die ablehnende Haltung bestimmter Sprachen könnte in der monolingualen Struktur der EU-Länder liegen, in die fremde Muttersprachler kommen, um zu arbeiten. Sie bleiben auch oft für längere Zeit, gründen Familien und bringen selbstverständlich auch ihre Sprachen mit. „Ich glaube, dass die Erwartungshaltung von Lehrern, Eltern sowie der Umgebung an diese mehrsprachigen Kinder hoch ist. Hier sollte man etwas kulanter sein und das Ergebnis betrachten, denn im Endeffekt wird es gut.“
Die Umgebung kann
Spracherwerb fördern
Man könne eine Sprache mit einer Person assoziieren, sagt Müller: „Das heißt, der Vater ist Italiener, die Mutter ist Deutsche. Die Eltern leben in Deutschland. Das Kind hört vom Vater italienisch, von der Mutter deutsch, von der Umgebung auch deutsch. Also eine Person, eine Sprache. Das funktioniert.“ Aber auch eine Umgebung könne Spracherwerb fördern. „Wenn beide Eltern aus der Türkei nach Deutschland gekommen sind, sprechen sie mit dem Kind Türkisch in der Familie. Aber außerhalb wird das Kind mit Deutsch beschallt“, erklärt sie. Ob strikte Sprachentrennung nach Personen oder Umgebung: Spracherwerb funktioniere immer dann, wenn Menschen in die Gesellschaft integriert würden und die jeweiligen Sprachen aktiv unterstützt werden. „Die Gesellschaft muss dafür sorgen, dass diese Kinder schon in der Krabbelgruppe außerhalb der Familie Deutsch hören und sprechen.“
Ein weiterer lohnender Weg wäre für Natascha Müller der sinnvolle Einsatz von Muttersprachlern im Unterricht. „Ich habe mich immer gefragt, warum die Institution Schule dies nicht tut. Ich würde mir wünschen, dass ein muttersprachlicher bilingualer Deutsch-Italiener die Kinder im Italienischen, eine deutsch-spanische Person die Kinder im Spanischen und eine deutsch-französische Person die Kinder im Französischen unterrichtet. Dann wäre es natürlich.“