Barmen. Wuppertalerin Luise Thiel lernt auch mit mehr als 90 Jahren noch

Barmen. · Die gebürtige Barmerin erinnert sich als Absolventin der Pädagogischen Hochschule und Gasthörerin der Bergischen Universität an ihre Zeit in Wuppertal.

Luise Thiel studierte Deutsch und ev. Theologie von 1964 bis 1970 (2. Staatsexamen) an der Pädagogischen Hochschule auf der Hardt.

Foto: Uni-Service Transfer

„Mit meiner Schulbildung, das heißt acht Jahre Volksschule, war ja nichts zu machen“, sagt Luise Thiel, und erklärt, wie sich Zeit und Umstände auf ihr langes Leben ausgewirkt haben. „Damals, 1938, ging man entweder als Lehrling in den Verkauf oder ins Büro.“ Eine Alternative gab es nicht. Das Schulgeld machte vielen Familien die Förderung ihrer Kinder unmöglich. Ihrer Mutter verdankt die 13-jährige Luise immerhin den Besuch der Privathandelsschule Dr. Flockenhaus in Barmen, in der sie parallel zur Schule Stenographie und Schreibmaschine lernte. „Ich konnte also 120 Silben Stenographie und zehn Finger blindschreiben. Das war ein Riesenvorteil“, erklärt Thiel. Damit setzte sie sich bei ihrer Bewerbung in einem Architekturbüro gegen 129 Bewerber durch.

Das von den Nationalsozialisten eingeführte sogenannte Pflichtjahr – es galt für alle Frauen unter 25 Jahren und verpflichtete sie zu einem Jahr Arbeit in der Land- und Hauswirtschaft – verbrachte Thiel in einem Forsthaus im Solling. Die harte Zeit ohne fließendes Wasser, mit einem Brunnen vor der Türe und ohne Strom – es gab Petroleumlampen –, ließ sie die entbehrungsreichen Jahre des Krieges besser ertragen.

Zurück zu Hause war der Krieg mittlerweile im vollen Gange. Der Russlandfeldzug hatte 1941 begonnen, der Barmer Angriff 1943 beraubte die Familie ihrer Existenz und dem zweiten Angriff 1945 fiel dann auch ihr Vater zum Opfer. „Und dann standen wir da, meine Mutter, die kleine Schwester und ich. Meine Mutter sagte: ,Ja! Und was machen wir jetzt?’ Ich sagte: ,Wir machen weiter! Es geht nicht anders.’“

18 Jahre lenkt sie an der Seite ihrer Mutter die Geschicke des Lebensmittelgeschäfts, besorgt Waren vom Großmarkt, verkauft, rechnet ab. Und trotzdem, sagt sie, „ich habe das gar nicht gerne gemacht“. Ein Zufall ändert dann noch einmal ihr Leben. Die überraschende Kündigung des Ladenlokals 1961 zwingt Thiel dazu, über eine andere Zukunft nachzudenken. Es ist der guten Kundschaft des elterlichen Geschäfts zu verdanken, dass sie eine weitere Chance erhält. Der ehemalige Leiter der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal, Professor Hermann Schlingensiepen, engagiert sie als Mitarbeiterin. Thiel tippt Bücher, schreibt seine Korrespondenzen, „er hatte einen riesigen Briefwechsel, Martin Buber und der Papst, da kam alles vor“, sagt sie und erklärt: „Das war natürlich eine außerordentlich gute Lehre.“ Für die nächsten zwei Jahre schreibt sie, liest und erweitert ihren Horizont.

Das Studium beschreibt Thiel
als die schönste Zeit

Damals herrschte Lehrermangel. Unter Kultusminister Paul Mikat wurde die Altersgrenze für Begabtensonderprüfungen heraufgesetzt. 1964 besteht Thiel diese Prüfung und beginnt im Sommersemester des gleichen Jahres mit 40 Jahren ihr Studium an der Pädagogischen Hochschule auf der Hardt.

Thiel wird sehr emotional, wenn sie über diese Zeit spricht, da sie die Möglichkeit eines Studiums nicht mehr erhofft hatte. „Also ich hatte Deutsch als erstes Wahlfach und evangelische Religion als zweites Wahlfach“, erzählt sie. „Diese Pädagogische Hochschule und dieser ganze Ausbildungsbereich hat für mich so einen bestimmten Nimbus und ich denke gerne daran zurück, denn ich hätte es ja nie für möglich gehalten.“

Zunächst an der Volksschule Wittener Straße eingesetzt, erlebt die frischgebackene Lehrerin die Umstellung in Primar- und Sekundarstufe und geht 1968 an die Hauptschule in Oberbarmen. Dort bleibt sie bis zu ihrer Pensionierung 1988. „Ich war sehr gerne im Amt“, sagt Thiel, die auch unkonventionelle Wege ging. Aufmerksame Mitarbeit im Unterricht vergütet sie mit dem Weglassen der Hausaufgaben, durch Projektarbeit stärkt sie den Klassenzusammenhalt und in ihren Theaterprojekten steigert sie das Selbstwertgefühl ihrer Schüler. Bei der Benotung konnte sie auch schon mal ein Auge zudrücken, wenn es die Zukunft der Kinder förderte. Einen zusätzlichen Punkt, der die Qualifikation dann doch möglich machte, um die erhoffte Lehrstelle zu bekommen, fand sie immer.

Nach dem Ende der Dienstzeit geht es an die Universität

Nach dem Ende ihrer Dienstzeit gerät die Bergische Universität mit ihrem vielfältigen Seniorenangebot wieder in Thiels Fokus. Sie informiert sich vor Ort, trägt sich als Gasthörerin ein und besucht in den nächsten 13 Jahren viele Veranstaltungen im geisteswissenschaftlichen Bereich. Die Theaterseminare der Literaturwissenschaftlerin Dr. Heinke Wunderlich beeindrucken sie dabei am stärksten. Aber damit nicht genug. Luise Thiel schließt sich mit 68 Jahren einer studentischen Theatergruppe an und bewirbt sich für Filmaufnahmen in der Stadthalle.

 „Es gab an der Uni eine Studententheatergruppe, die gerade das Stück ,Gefährliche Liebschaften’ von Christopher Hampton probte.“ Thiel spielt die ältere Madame Rosemonde in den Aufführungen im Haus der Jugend in Barmen. Und auch in einem Kinofilm wirkt sie mit. Ein Aufruf in der Tageszeitung, in dem Statisten für einen Film gesucht werden, lässt sie aufhorchen. „Es wurden Statisten gesucht für den Film ,Aimée und Jaguar’. Der Film wurde teilweise in Wuppertal gedreht, unter anderem in der Elberfelder Stadthalle.“ Thiel telefoniert sich durch die Agenturen und wird engagiert. „Es gab lange Proben in der Elberfelder Stadthalle, eine Woche lang. Es war ja ein Film aus der Zeit des Nationalsozialismus. Das war sehr interessant, schon allein diese ganze Atmosphäre beim Filmdreh und die Klappen! Ich habe das alles sehr genossen.“

2009 zieht sie mit ihrer Schwester in ein neugebautes Reihenhaus im Münsterland. Die umtriebige Seniorin findet alsbald einen Malkurs, den sie seitdem jeden Montagvormittag besucht und wird Vorleserin einer sehbehinderten Dame in einem Literaturkreis. Aktuell liest sie den Roman „Die Hauptstadt“ von Robert Manesse.

Gefragt nach ihren stärksten Erinnerungen als Lehrerin, nennt sie sofort ihre Schulprojekte, ihre Theaterspielgruppe sowie den Umgang mit den Kindern. „Ich hab es gerne gemacht, bin jeden Tag gerne in die Schule gegangen“, sagt sie. Auf ihr Geburtsjahr angesprochen, sagt sie lächelnd: „Ich bin 1924 in Barmen, in Wuppertal Barmen, geboren.“