Landgericht Koblenz 200. Tag im Koblenzer Neonazi-Prozess - und kein Ende absehbar
Der Neonazi-Prozess in Koblenz hat früher als das Münchener NSU-Verfahren begonnen. Nun geht er in den 200. Verhandlungstag. Manche halten ein spektakuläres Platzen des Prozesses für möglich - im Jahr 2017.
Koblenz (dpa) - 20 Angeklagte, 40 Verteidiger, fast 1000 Seiten Anklageschrift: Bei einem der umfangreichsten Neonazi-Prozesse in Deutschland steht an diesem Dienstag (28. Juli) der 200. Verhandlungstag an. Im Windschatten des später begonnenen Münchener Verfahrens um die NSU-Morde schleppt sich vor dem Landgericht Koblenz eine Hauptverhandlung hin, bei der ebenfalls kein Ende absehbar ist - bei weniger gravierenden Vorwürfen.
Manche befürchten sogar ein spektakuläres Platzen des Prozesses fünf Jahre nach dem Auftakt im Sommer 2012 - und damit einen Neustart. Denn im Juni 2017 will der Vorsitzende Richter Hans-Georg Göttgen in den Ruhestand gehen. Und der ursprüngliche Ergänzungsrichter musste bereits für einen anderen Pensionsfall der Staatsschutzkammer einspringen.
Die Vorwürfe der Anklage reichen von Gewalt gegen Linke etwa in Dresden über einen unangemeldeten Aufmarsch mit Fackeln in Düsseldorf und das Aufsprühen von Hakenkreuzen bis hin zu versuchten Brandanschlägen auf Autos. Die kriminelle Vereinigung mutmaßlicher Neonazis des „Aktionsbüros Mittelrhein“ sei in Bad Neuenahr-Ahrweiler in ihrem sogenannten Braunen Haus zusammengekommen.
„Wir haben noch nicht mal die Hälfte des Beweisprogramms abgearbeitet“, sagt Verteidiger Günther Herzogenrath-Amelung. „Die Anklageschrift ist länger als die im Auschwitz- und die im NSU-Prozess.“ Es gibt auch eine Flut von Beweisanträgen. Oberstaatsanwalt Christopher do Paco Quesado erklärt: „Bis Ende 2016 ist der Prozess schon durchterminiert.“ Die Kosten dürften nach Ansicht von Anwälten längst in die Millionen gehen.
Herzogenrath-Amelung behauptet: „Das ist ein politisches Verfahren. Woanders würde vieles eingestellt.“ Im rot-grün regierten Rheinland-Pfalz dagegen könnte es um einen verlängerten demonstrativen Kampf gegen Rechts gehen. Do Paco Quesado weist das zurück: „Wir betreiben Strafverfolgung. Das ist kein politischer Prozess.“ Meist werde dreimal in der Woche verhandelt. „Schneller kann die Kammer kaum voranschreiten.“
An langen Bänken im größten Saal des Landgerichts sitzen die Angeklagten dann zwischen ihren Pflichtverteidigern. Diese klimpern in schwarzen Roben auf Laptops. Stunden über Stunden werden SMS vorgelesen und Telefonate abgespielt. Die Zuschauerbänke haben sich längst geleert. Die Angeklagten schwiegen zumeist oder wiesen die Vorwürfe zurück.
In Untersuchungshaft sitzt schon lange keiner mehr. Doch die zeitlichen Einschränkungen für die Angeklagten sind enorm, wie ihre Verteidiger herausstreichen: Eine geregelte Arbeit oder Ausbildung sei bei drei Verhandlungstagen in der Woche kaum möglich. Oberstaatsanwalt do Paco Quesado entgegnet: „Die Dauer des Verfahrens wird natürlich bei der Strafzumessung eine Rolle spielen.“
Der Verteidiger André Picker sieht sogar eine Verbindung zum NSU: Ein geheimer Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der in den NSU-Anschlag auf ein Kölner Lebensmittelgeschäft verwickelt sein könnte, sei auch bei einem Treffen des „Aktionsbüros Mittelrhein“ dabei gewesen. Daher müsse dieser V-Mann in Koblenz als Zeuge aussagen.
In dem Mammutprozess hat die Staatsschutzkammer schon viel erlebt. Etwa Stinkbomben, die eine vorübergehende Räumung des Saales 128 erzwangen. Oder eine anwaltliche Stellungnahme in Reimform. Oder einen Schöffen, der der Anklage vor Weihnachten Schokoladen-Nikoläuse auf den Tisch stellte - und sich so wegen Befangenheit aus dem Verfahren katapultierte.