Angst vor dem Anruf aus Stockholm
2007 erhielt Gerhard Ertl den Chemie-Nobelpreis. Sein Leben habe sich nicht verändert, manche Einstellungen schon.
Berlin. Ändert sich das Leben, wenn der Nobelpreis kommt? Für Daniel Shechtman, am Mittwoch mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet, wird sich das erst in der Zukunft zeigen.
Gerhard Ertl hat diese Erfahrung hingegen bereits gemacht. Dabei hatte der gebürtige Stuttgarter sogar ein wenig Angst davor, als 2007 an seinem 71. Geburtstag der Anruf aus Stockholm kam und der Nobelpreis für Chemie erstmals nach fast zwei Jahrzehnten wieder nach Deutschland ging.
Am Montag wird Ertl 75 Jahre alt. Jeder Geburtstag ist für ihn nun ein wenig mit dem Nobelpreis verknüpft. Doch sein Leben, sagt Ertl, das habe sich nicht verändert. Die Familie, die Wohnung, zwei Katzen, ein Klavier — er ist zufrieden, wie es war und wie es ist.
Gerhard Ertl sitzt vormittags noch immer in seinem Zimmer am Berliner Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Wissenschaft gibt es dort seit genau 100 Jahren, seit der Gründung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aus der die MPG hervorging. Das Institut feiert sein Jubiläum Ende Oktober mit Festvorträgen — und Ertls 75. Geburtstag gleich mit. Darauf freut er sich. Sonst bedeuteten ihm Geburtstage nicht viel. „Alter ist kein Verdienst“, sagt er.
Seit dem großen Tag vor vier Jahren hat sich in seinem Zimmer am Institut wenig verändert. Ertl wirkt dort wie das Herz eines Mikrokosmos. Die Nobelpreis-Medaille holt er nur aus ihrer Schatulle, wenn Fotografen ihn darum bitten. Bescheidenheit ist für den gebürtigen Schwaben eine Tugend. Nach der großen Ehrung in Stockholm hat Ertl den guten Rat eines Kollegen beherzigt: „Du musst lernen, nein zu sagen.“ Bei Einladungen und Anfragen überlegt er, ob sie auch ohne den Nobelpreis gekommen wären. Danach wird sortiert.
Die Neugier, die ihn immer angetrieben hat, und das Interesse am Fach, die sind geblieben. Aber neue Entdeckungen? „Da sollen nun die Jungen ran“, ergänzt Ertl. Er freut sich, wenn seine Schüler Erfolg haben. „Das ist ein bisschen wie bei Kindern.“ Das Institut als zweite Familie? Ertl widerspricht nicht.
Den Nobelpreis hat Ertl, studierter Physiker, für die exakte Untersuchung chemischer Reaktionen an Oberflächen bekommen — wie sie zum Beispiel im Autokatalysator ablaufen. Er hat Grundlagen gelegt, auf die andere nun aufbauen können. Dass heute weniger Abiturienten als erwünscht Naturwissenschaften studieren, macht ihn ein wenig traurig.
„Physik und Chemie sind schwieriger als Betriebswirtschaft“, sagt er. Viele junge Leute hätten die Hoffnung, schnell viel Geld zu verdienen. „Die Banker geben ihnen doch Recht“, sagt Ertl. „Das ist auch die Frage einer Mentalität in der Gesellschaft.“
Noch etwas treibt ihn um: Atomenergie. Er hat die frühe Atom-Euphorie erlebt, den Glauben an eine Technik der Zukunft. „Die Nachteile hat man erst später gesehen.“ Er nimmt sich da nicht aus. Er ist zu einem Kritiker der Atomenergie geworden — lange vor Fukushima. Heute setzt er auf grüne Energie, glaubt an die Potenziale von Sonnen- und Windkraft.