Auf der Suche nach Weihnachten
Der Priester muss zum Flieger, und das Christkind wohnt im Süßwarenladen — Weihnachtsgeschichte mal anders.
Wuppertal. Eigentlich sollte diese Geschichte ganz anders laufen. Ich sollte jetzt mit einem Kollegen als Maria und Josef verkleidet durch Wuppertal laufen und an fremden Türen um Obdach bitten. Aber Josef liegt flach. „Bin halsaufwärts total dicht“, waren die letzten Worte vom Krankenbett. Und jetzt? Maria allein ohne Zuhaus’? Ich beschließe, mich ohne Josef auf die Suche nach Weihnachten zu machen und, statt um eine Herberge, einfach um etwas Zeit zu bitten — das ist in der stressigen Vorweihnachtszeit schließlich auch schon viel verlangt.
Ich nehme die Fährte in Wuppertal-Vohwinkel auf. Einem Stadtteil, in dem es noch mehr alteingesessenen Einzelhandel als große Ketten gibt, und dessen Hauptverkehrsader vom Gerüst der Schwebebahn eingefasst ist. Übersichtlich, authentisch, nicht zu schick — genau der richtige Ort für Begegnungen.
Um in Stimmung zu kommen, beginne ich meine Suche im Naschkatzenparadies. Einem von jenen Süßwarenläden, in dessen Schaufenstern elektrische Eisenbahnen Nougattrüffel spazieren fahren — wenn sich jetzt noch Kinder die Nasen an der Scheibe platt drücken würden, könnte das ZDF einen gesamten Vorabendfilm hier spielen lassen.
Der Inhaber begrüßt mich, als hätte er den ganzen Tag auf mich gewartet. Eine Reporterin, die mit ihm über Weihnachten sprechen will — es gibt vieles, was dazu mal gesagt werden müsste. „Ich bin wahrscheinlich der Einzige, der noch ein klassisches Sortiment hat“, sagt Markus Kuhnke und hält mir einen Schokoladenengel mit Papierflügeln hin. „Sagen Sie jetzt bitte nicht Engel dazu. Das ist ein Christkind“, ergänzt er, und ich bin froh, dass ich jetzt nichts gesagt habe.
„Viele wissen gar nicht mehr, worum es an Weihnachten eigentlich geht. Echte Schokoladen-Nikoläuse mit Bischofsornat — die sind dieses Jahr vielleicht zweimal nachgefragt worden.“ Aber Markus Kuhnke liebt Weihnachten. Und er will mit seinen Schokoladen eine Botschaft dazu verkaufen, die für sein Gefühl sehr selten geworden ist.
„Warten Sie mal, ich frage unseren Kaplan, ob er noch vorbeikommen will. Der kann Ihnen das noch viel besser erklären“, sagt er und greift zum Handy. Der Kaplan ist Pfarrer Rodrigo Amaral, der seit April in Wuppertal seinen Doktor in Philosophie macht und im Seelsorgebereich West eingesetzt ist. Eigentlich müsste er jetzt seine Koffer packen, denn in gut sechs Stunden startet sein Flieger über Paris nach Brasilia. Aber es geht ja schließlich um die Weihnachtsbotschaft, und dafür ist immer Zeit.
Zehn Minuten nach Kuhnkes Anfrage steht der Priester im Schokoladengeschäft und fragt höflich, wie er mir helfen kann. Ich mutmaße, dass ich es mit einem Weihnachtsprofi zu tun habe, der im Advent vor allem viel Arbeit hat. Doch Amaral belehrt mich eines Besseren. „Weihnachten ist ein Grund zur Freude“, sagt er und grinst herrlich breit. „Es ist meine Aufgabe, an diese Freude zu erinnern. Die Weihnachtsgeschichte ist ein Grund, warum ich Priester geworden bin“, sagt der 35-Jährige. Deutschland sei zudem ein prima Weihnachtsland. „Es ist schön kalt und wird früh dunkel — das macht es heimelig.“
Zum Abschied nehme ich noch ein paar echte Kindheitserinnerungen mit: Flimmersterne — Schokoladenkugeln in rotem Glanzpapier mit Lamettakranz. Doch als ich mich von Markus Kuhnke verabschiede, hält er mich fest. Gerade hat seine älteste Kundin bei ihm eingekauft: eine 92 Jahre alte Vohwinkelerin. Ob ich sie ein Stück des Weges begleiten dürfe, frage ich sie, und Kuhnke kommt gleich mit. „Weihnachten“, sagt Marga Beelow so langsam, als würde sie das Wort wie ein Bonbon durch ihren Mund kullern lassen. „Wissen Sie, ich habe keine Kinder, und mein Mann ist seit 13 Jahren tot. Aber ich habe Nichten und Neffen. Die sagen immer: Tante Marga, komm’ vorbei.“
An der Kaiserstraße, direkt unter der Schwebebahn, trennen sich unsere Wege. Ich habe Bettler an den Gerüstpfeilern sitzen sehen und frage sie, wo sie Heiligabend verbringen. „Weiß ich nicht. Vielleicht bei meiner Freundin, aber die hat so komische Brüder. . .“, sagt der eine schulterzuckend. Ich lasse zwei Euro für Kaffee da und gehe weiter zu einem anderen, der sich als Frank vorstellt und eine pinkfarbene Wollmütze trägt. „Ich kann gerade nicht so mit meiner Mutter“, sagt der etwa 50-Jährige. Deshalb wisse er auch noch nicht, was er Weihnachten mache. „Es ist mal so und mal so“, sagt er mit ausweichendem Blick. Als ich gehe, schenke ich ihm meine Flimmersterne.
Die letzten Meter auf der Suche nach Weihnachten führen mich an der Schwebebahn entlang. Endstation ist ein kleines Café, an dem ich fast vorbeigelaufen wäre. Drinnen begrüßt der Wirt jeden hereinkommenden Gast mit Namen. Nur mich nicht. Sein Blick bleibt immer wieder an mir kleben, als würde er überlegen, wie ich wohl hier gelandet bin. Am Nebentisch sitzen zwei ältere Männer und eine Frau, die darüber diskutieren, ob in einen Kartoffelsalat saure Gurken gehören — auch irgendwie ein Weihnachtshema. Als sich die Gruppe auflöst und nur die Frau sitzenbleibt, traue ich mich, sie anzusprechen. „Weihnachten“, sagt sie, „das ist vor allem die gemütliche Zeit zwischen den Jahren. So ruhig ist es sonst nie.“
Plötzlich erinnere ich mich daran, warum ich heute Morgen nach Vohwinkel gekommen bin und frage sie, wie die Weihnachtsgeschichte wohl heute ausgegangen wäre. „Man muss schon vorsichtig sein, wenn Fremde anklopfen“, sagt sie und fügt dann etwas hinzu, was einen sehr großen Kreis schließt: „Ich hätte sie wahrscheinlich zur Kirche geschickt.“