Corona-Krise Heimliche Treffen mit der 90-jährigen Mutter

Düsseldorf · Die Besuchsverbote in Alten- und Pflegeheimen wegen Corona führen zu menschlichen Tragödien. Ein Angehöriger will auf den Kontakt nicht verzichten.

Besonders hart treffen die Corona-Einschränkungen die Bewohner von Pflegeheimen – Menschen, die ohnehin oft sehnlichst auf die Besuche ihrer Kinder oder Enkelkinder hoffen.

Foto: dpa/Jonas Güttler

Wenn Stefan L. (55) am späten Nachmittag sein Auto in der kleinen, kaum befahrenen Straße mit den gepflegten Vorgärten vor den Reihenhäusern abstellt, und wenn er dann aussteigt, sich umsieht, mit seinem Mund-Nasen-Schutz, über das er noch ein weiteres Halstuch gezogen hat, dann kommt er sich vor wie ein Dealer. Ein Drogenhändler, der auf seine Kundschaft wartet. Dabei wartet er nur auf seine 90-jährige Mutter. Wie bei den letzten Treffen ist Elisabeth L. auch dieses Mal wieder pünktlich, setzt sich auf die Bank, die vor einem der Häuser steht. Stefan L. hat die Straße im Blick, jederzeit bereit, wieder auf Abstand zu gehen und damit wie ein zufälliger Kontakt der alten Dame zu wirken. Schon jetzt hält er den Sicherheitsabstand, bleibt sogar drei Meter entfernt, widersteht der Versuchung, sich neben seine Mutter zu setzen, die nur schwer verstehen kann, warum er so übervorsichtig ist.

„Es ist in deinem Interesse“, hat Stefan L., der selbst zurzeit fast alle sozialen Kontakte vermeidet, ihr klargemacht. Denn Elisabeth L. wohnt in einem Altenheim in einer mittelgroßen Ruhrgebietsstadt. Sie darf zwar raus aus der Einrichtung und ihre Spaziergänge machen. Aber sollte sie dabei einen „zielgerichteten oder intensiven Kontakt“ mit einer Person von außerhalb der Einrichtung haben, so darf sie auch innerhalb der Einrichtung 14 Tage lang keinen Kontakt mehr mit Mitbewohnern haben. So schreibt es § 2a der „Verordnung zur Änderung der Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus Sars-CoV-2“ vor. Die Heimleitung sagt es deutlicher in ihrem Schreiben an die Bewohner und deren Angehörige: 14 Tage Quarantäne auf dem Zimmer.

Stefan L. weiß um die besonderen Risiken, denen alte Menschen bei einer Verbreitung des Virus ausgesetzt sind. Er weiß, dass er Verbotenes tut. Bis vor kurzem, bevor die Einrichtung für Besucher geschlossen wurde, hat er seine Mutter drei Mal die Woche besucht, ihr beim Anziehen geholfen, ist dann mit ihr losgegangen, spazieren, einkaufen, Eis essen. Und dann ging das auf einmal alles nicht mehr. Die ersten Tage haben er und seine Mutter sich an das Kontaktverbot gehalten, doch als sie ihm dann am Telefon erzählte, dass sie abends weine, wenn sie die Einsamkeit überkomme und dass doch kein Ende absehbar sei und sie ihn womöglich nie mehr in ihrem doch nur noch sehr überschaubaren Leben sehen werde – da haben sie sich verabredet zu diesen „konspirativen Treffen“ in der Seitenstraße. Knapp 500 Meter von der Einrichtung entfernt.

Denn raus aus der Einrichtung darf Elisabeth L. noch, ja, sie darf sogar ihre Einkäufe im Supermarkt allein machen. Stefan L. regt das auf: „Das ist doch Schwachsinn, dass die alten Leute da allen möglichen Menschen ungeschützt nahe kommen, da spielen sie dann Russisches Roulette. Aber ihre eigenen Angehörigen dürfen sie nicht nur nicht besuchen, sondern nicht mal draußen treffen, selbst wenn sie noch so großen Sicherheitsabstand halten.“ Und überhaupt: Das Personal gehe täglich ungeschützt, ohne Schutzkleidung ein und aus in der Einrichtung, sei ohne Masken in Kontakt mit den Bewohnern. Ein Umstand, den auch die Stiftung Patientenschutz kritisiert. Deren Vorstand Eugen Brysch beklagte im WDR: „Es ist unglaublich, dass es in der Pflege an Desinfektionsmitteln, an Schutzkleidung, an Mund-Nasen-Schutz fehlt. Das muss dringend abgestellt werden.“

Stefan L. hingegen betont, er halte wirklich alle Vorsichtsmaßnahmen ein. Mehr als das. Das Gespräch mit seiner Mutter ist schwierig durch die Maske und das noch darüber gelegte Tuch. Da fällt ihm das Atmen schon nach ein paar Minuten schwer. Und dann auch noch gegen die Schwerhörigkeit der Mutter anzuschreien, das sei schon eine Herausforderung. „Ich habe immer die Häuser im Blick und wundere mich fast, dass da bislang noch kein Fenster aufgegangen ist und einer ,Ruhe da unten’ gerufen hat. Manchmal gehen die beiden auch ein bisschen zusammen, im Abstand von drei Metern. Stefan L. achtet  sogar darauf, dass die Windrichtung so ist, dass er gegen den Wind mit seiner Mutter spricht, um auch das letzte Risiko auszuschließen. Und immer ist er gewissermaßen auf dem Sprung, hat ihr erklärt, es könne auch mal sein, dass er sich schnell zurückziehen muss, um nicht zufällig von einem Mitarbeiter oder Mitbewohner der Einrichtung entdeckt zu werden. Schließlich kennt man ihn dort seit Jahren als Besucher, auch wenn er jetzt mit seiner Vermummung kaum noch zu erkennen ist.

Mit einem mulmigen Gefühl denkt Stefan L. an das, was da noch kommen wird. Längst wird darüber nachgedacht, den gesellschaftlichen Lockdown zu lockern, dafür aber die Alten und Vorgeschädigten streng zu isolieren. Um ein Ansteigen der Zahl der Corona-Toten in den Heimen zu verhindern. Um zu vermeiden, dass schon dadurch das Gesundheitssystem an seine Grenzen kommt.

Die Kehrseite: Es wird noch stärker in das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen eingegriffen als dies schon jetzt der Fall ist. Dann werden die Bewohner der Alten- und Pflegeheime ihre Angehörigen vielleicht nie mehr vor ihrem Tod zu Gesicht bekommen. Ein Abschied per Telefon, per Whatsapp-Nachricht. Das ist für Stefan L. ein unerträglicher Gedanke.

Ein Gedanke, der auch dem nordrhein-westfälischen Verordnungsgeber, dem Innenministerium, schon gekommen ist. Die Einrichtungsleitung kann Ausnahmen vom Kontaktverbot zulassen, wenn dies „medizinisch oder ethisch-sozial geboten ist“. Gemeint ist: Palliativpflege, Sterbebegleitung in den letzten Stunden. Die zahlreichen Dementen, die, wenn sie überhaupt zuvor noch Besuch bekommen hatten, dürften die nun ausbleibenden Verwandtenkontakte ohnehin schon jetzt nur noch so verstehen: Jetzt haben die mich ganz im Stich gelassen.