Der düstere Albtraum der Henriette Reker
Im Gericht trifft die Kölner Oberbürgermeisterin auf ihren Attentäter. Auf beeindruckende Weise spricht sie von der Tat und den Folgen.
Düsseldorf. Noch bevor sie den Gerichtssaal betritt, geht Henriette Reker im Hochsicherheitsgebäude des Oberlandesgerichts Düsseldorf auf die 50 wartenden Journalisten zu. Nein, die Konfrontation mit dem Attentäter im Gericht sei für sie kein Problem, versichert die Kölner Oberbürgermeisterin. Der nächste Satz zeigt dann aber doch, wie sich die 59-Jährige fühlen mag — so kurz vor dem Aufeinandertreffen mit dem Mann, der ihr nach seinem eigenen Geständnis am 17. Oktober vergangenen Jahres ein Messer mit einer Klingenlänge von 30 Zentimeter in den Hals stach. Sie sagt noch in die Kameras und Mikrofone: „Vielen Dank, dass Sie da sind und mir dadurch ein stückweit beistehen.“
Wenige Minuten später wird Henriette Reker von der Vorsitzenden Richterin Barbara Havliza als Zeugin aufgerufen. Wie wird sie sich verhalten gegenüber dem nur etwa zehn Meter entfernt sitzenden Frank S.? Keine sieben Monate nach dessen Attacke, die wohl nur zufällig nicht zu ihrem Tod führte. Wenn überhaupt, dann schaut sie den 44-Jährigen mit dem kahl rasiertem Kopf und dem Kinnbart nur ganz kurz an — beim Hereinkommen, beim Orientieren im Gerichtssaal.
Er sitzt dort, umgeben von seinen Verteidigern und fünf Wachtmeistern. Sie hingegen ist allein am Zeugentisch vor den Richtern. Und dann konzentriert sich Reker — blauer Hosenanzug, rosa Schuhe — nur noch auf die Fragen der Richterin, bei deren Beantwortung noch einmal die ganze Dramatik des Geschehens und seine Folgen deutlich werden.
So spielte sich die Tat ab — aus der Perspektive der parteilosen Kommunalpolitikerin, die einen Tag nach dem Attentat, noch während sie im Koma lag, von den Kölnern zum Stadtoberhaupt gewählt wurde: Kurz nachdem sie an diesem Samstagmorgen am Wahlkampfstand auf einem Wochenmarkt einen Bund Rosen in die Hand genommen hatte, um diese einzeln an die Menschen zu verteilen, sei der Angeklagte auf sie zugekommen. „Freundlich und zugewandt“, charakterisiert sie sein Auftreten. „Er fragte sehr freundlich, ob er eine Rose haben könne. Und dann war da in Sekundenschnelle das Messer, das er mir in den Hals stach.“ Ob er dabei etwas sagte, daran kann sie sich nicht erinnern. „Ich habe ihm ins Gesicht geschaut und das Messer erst gesehen, als es eine gewisse Höhe hatte.“
Die Klinge durchtrennte die Luftröhre und drang in den Brustwirbel ein. Erst später an diesem dritten Verhandlungstag, als Henriette Reker nicht mehr im Gerichtssaal ist, werden auf einer Leinwand Fotos gezeigt. Vom Tatort, von dem blutgetränkten Schal des Opfers und auch von den Verletzungen der insgesamt fünf Tatopfer. Der tiefe Einschnitt, das klaffende Loch im Hals der schwer verletzten Frau Reker, lassen die Zuschauer im Saal erschaudern. Reker hatte zuvor geschildert, wie sie zu Boden ging, aber bei Bewusstsein blieb. „Ich habe den Finger in die Wunde gelegt, um mich zu kompressieren, sagt sie. Sie habe früher einmal bei einer Berufsgenossenschaft gearbeitet, wo es um Arbeitsunfälle zum Beispiel von Handwerkern geht, daher kenne sie die Gegenmaßnahmen. Ja, sie habe das ganz bewusst so gemacht.
Henriette Reker auf die Frage des Verteidigers, ob der Angeklagte ihr entschuldigende Worte sagen dürfe.
Welche Gedanken ihr unmittelbar nach der Tat durch den Kopf gingen, will die Richterin wissen. „Meine größte Sorge war, dass ich vielleicht gelähmt bleibe“, antwortet Reker. „Und dass ich dann mit dem Rollstuhl nicht mehr durch die Badezimmertür komme.“ Befremdlich für ihre Außenwelt sei es dann wohl auch gewesen, als sie den Ärzten im Krankenhaus signalisiert habe, sie müsse unbedingt am nächsten Tag wählen gehen. Und dann wolle sie ja auch noch zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels nach Frankfurt.
Es folgte die Operation, die Versetzung ins künstliche Koma. Richterin Havliza will wissen: „Als Sie wieder zu Bewusstsein kamen und man Ihnen sagte, dass Sie die OB-Wahl gewonnen haben, haben Sie da nicht gedacht: Jetzt reicht’s, das tue ich mir nicht mehr an?“ Reker muss da nicht überlegen. „Nein“, sagt sie, „bei der Entscheidung habe ich nicht gezögert. Ich wusste nur nicht, ob meine körperliche Verfassung das erlaubt.“
Sie erzählt von den Wochen der Genesung, von den Ärzten, die ihr sagten, welch großes Glück sie hatte, keine schwerwiegenderen Folgen davongetragen zu haben. Sie habe mittlerweile auch keine Schmerzen mehr, sagt sie. Allerdings habe sie immer wieder das Gefühl, als habe sie eine Tablette im Hals. Darum werde sie sich auch noch einmal operieren lassen.
Und die psychischen Folgen? „Ich fühle mich als Mensch so robust, dass ich auch jetzt Menschenmengen nicht scheue.“ Dann fügt sie aber hinzu: Ja, es gebe Albträume, und einer komme immer noch wieder. Zunächst wird sie hier nicht konkreter. Später kommt sie dann aber doch darauf zu sprechen. „Ich hatte während der Tat das Gefühl, dass mir die Kehle durchgeschnitten wird. Das ist für mich so ein Synonym für eine Hinrichtung“, sagt sie. Und eben das ist ihr Albtraum — eine Exekution. Gefasst fährt sie fort: „Wenn ich träume, dann bis zu dem Zeitpunkt, wo mir die Kapuze über den Kopf gezogen wird.“
Sie schaut den links von ihr sitzenden Angeklagten nicht an. Dieser beobachtet sie mehr als eine Stunde lang von der Seite, hört ihr aufmerksam zu. Und dann will die Richterin von der Zeugin wissen, ob eigentlich der Angeklagte oder seine Verteidiger irgendwann einmal mit so etwas wie einer Entschuldigung auf sie zugekommen seien. „Nein“, sagt Reker. Und als dann Christof Miseré, einer der beiden Verteidiger, sie direkt anspricht, ob sein Mandant denn jetzt ein paar entschuldigende Worte zu ihr sagen dürfe, antwortet sie nur: „Es ist noch nicht die Situation dafür.“ Ohne den Angeklagten anzublicken, verlässt Henriette Reker den Gerichtssaal. Nach einem angesichts der wohl tonnenschweren psychischen Belastung beeindruckenden Auftritt.