Conchita Wursts Sieg treibt deutsche Jury in Defensive
Berlin (dpa) - Die Organisatoren des deutschen Grand-Prix-Votums haben die schwache Jury-Bewertung von Conchita Wurst gegen Kritik verteidigt.
Die österreichische Siegerin hatte aus Deutschland nur sieben Punkte bekommen, obwohl das Publikum ihr zwölf Punkte gab. Fast nirgends sonst lagen Jury und Zuschauer so weit auseinander, was in Sozialen Netzwerken Unmut auslöste. „Wenn der Sieg von Conchita Wurst als ein Zeichen der Toleranz in Europa betrachtet wird, ist es eine Selbstverständlichkeit, dem Urteil der „music industry professionals“ dieselbe Toleranz entgegenzubringen“, schrieb ESC-Teamchef und ARD-Unterhaltungschef Thomas Schreiber am Montag.
Conchita Wursts Sieg für Österreich beim Eurovision Song Contest (ESC) rief weltweit zum Teil heftige Reaktionen hervor. Von US-Popdiva Cher bis zu russischen Politikern kommentierten viele den Triumph der Vollbart-Dragqueen in Kopenhagen. Österreichs Fernsehen ORF will in spätestens zwei Monaten entscheiden, wo der ESC 2015 ausgetragen wird.
Nachdem bekanntgeworden war, dass Deutschlands Profi-Juroren Conchita Wurst zusammen nur den elften Platz und damit keine Punkte gaben, hagelte es Kritik vor allem im Internet. Wäre es nur nach dem Fernsehpublikum gegangen, hätte Deutschland Wurst die Höchstwertung von zwölf Punkten gegeben. Mit dem Jury-Votum zusammen gingen sieben Punkte (die vierthöchste mögliche Wertung) nach Österreich. Die umstrittene 50:50-Regel für Jury/Publikum gibt es beim ESC seit 2009.
In der vom NDR gekürten Jury saßen die Musiker Andreas Bourani („Auf uns“), Madeline Juno, Jennifer Weist (Jennifer Rostock), der Manager Konrad Sommermeyer sowie der Berliner Rapper Sido (Paul Würdig). Sido verteidigte sich bei Facebook: Es sei „eine reine Geschmacksfrage“, warum ihm die „Komposition und die Performance des Herren aus Österreich“ nicht gefallen habe. Er sah Wurst sogar nur auf Rang 13.
In den USA spielte der ESC - wie immer - kaum eine Rolle. Nur wenige Zeitungen berichteten: Die „New York Times“ attestierte Tom Neuwirth alias Wurst eine Stimme „wie gemacht für den Broadway“. Der Sieg des Österreichers zeige, „dass der Song Contest die größeren sozialen und politischen Trends widerspiegelt... auch wenn er von den sozial konservativ Eingestellten in Russland und Osteuropa als Zeichen des dekadenten und moralisch verdorbenen Westens scharf kritisiert wird“.
US-Popsängerin Cher (67) twitterte, sie habe die Vollbart tragende Dragqueen im Freundeskreis verteidigt. „Das Aussehen von jemandem ist keine Bedrohung.“ Sie gab der Sängerin und Kunstfigur von Tom Neuwirth jedoch einen Tipp: „Du verdienst einen schöneren Namen und eine bessere Perücke.“ Auch Julio Iglesias (70) schenkte Wurst Anerkennung: „Sie ist eine Super-Sängerin, ein großartiges Mädchen und sehr sensibel.“ Zuvor hatte auch Udo Jürgens (79), der 1966 für Österreich den Grand Prix gewann, seine Nachfolgerin gelobt.
Mit Häme reagierten einige russische Medien. Der Auftritt sei eine „Komödie“, meinte die kremltreue Boulevardzeitung „Komsomolskaja Prawda“. Ein „Zirkus mit einer bärtigen Frau“, schrieb das regierungsnahe Blatt „Iswestija“. Ultranationalist Wladimir Schirinowski wetterte im Staatsfernsehen über Westeuropa: „Sie haben schon keine Männer und Frauen mehr. Bei ihnen gibt es nur noch „Es““. Der als Initiator des umstrittenen Anti-Homosexuellen-Gesetzes bekannte Petersburger Kommunalpolitiker Witali Milonow kritisierte, dass Russlands Tolmatschewy-Zwillinge ausgebuht worden seien in Kopenhagen. „Euro-Homos, schmort in der Hölle“, twitterte er.
In Polen sagte der polnische Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski dem Sender TVN24: „In Europa tun sich beunruhigende Dinge, die seine Dekadenz zeigen. Und diesen Trend sollten wir ablehnen.“ Propaganda, die den Unterschied zwischen Mann und Frau verwische, führe „auf eine Bahn der völligen Zerstörung“, sagte er.
Nach dem enttäuschenden drittletzten Platz mit San Marino schaut Grand-Prix-Urgestein Ralph Siegel (68) schon wieder nach vorne: „Mein größter Traum wäre, nochmal mit Deutschland anzutreten.“ Den Grund fürs schlechte Abschneiden machte er auch aus: „...mein Song war vielleicht zu anspruchsvoll.“
Auch wenn der ORF ohne Vorentscheid mit der Nominierung der Vollbart-Dragqueen erfolgreich gewesen ist, will der zuständige NDR in Deutschland an einem nationalen Finale festhalten: „Auch im kommenden Jahr wird es einen deutschen Vorentscheid geben.“