Vom Veggie-Boom zur Ich-Performance
Berlin (dpa) - Paleo, vegan - oder doch lieber Wechseljuicer und Flexitarier? Die Ernährungsstile und die Diskussionen darüber werden in Deutschland immer ausgefallener.
Genuss, Rücksicht aufs Tierwohl oder ein kritischer Blick auf den ökologischen Fußabdruck müssen nicht immer dahinterstecken, sagen Wissenschaftler. In einer Überflussgesellschaft scheint es vielmehr für viele hip zu sein, sich mit wohldosiertem Verzicht abzugrenzen - für die schicke Ich-Performance auf dem Teller.
Früher zeugten langweilige Kalorientabellen von bewusster Ernährung. Oder wenige missionseifrige Idealisten wachten verbissen über Essensregeln samt Weltanschauung. Heute muss die Berliner Polizei einen Imbiss ohne Fleisch in Kreuzberg zur Eröffnung wegen Überfüllung räumen. Ein Berliner Vater will veganes Schulessen für seine Tochter einklagen. Und beim Vietnamesen um die Ecke heißt es plötzlich „Tofu ist alle“, wenn der Andrang in der Mittagszeit am größten ist. Eine schleichende Revolte?
Wenn es in Deutschland ums Essen ging, kreisten die Diskussionen - bis hin zur Schulspeise - lange wenig genussvoll meist um den Preis. „Bei uns sind Ernährung und Essen eher naturwissenschaftliche Phänomene“, erläutert Jana Rückert-John, die an der Hochschule Fulda „Soziologie des Essens“ lehrt. „Die Gesellschaft kommt zu kurz.“
Doch gab es 2015 ganze 119 neue Kochbücher für Veganer. 7,8 Millionen Menschen ernähren sich nach Angaben des Vegetarierbundes heute ohne Fleisch, 900 000 Menschen vegan - also komplett ohne tierische Lebensmittel wie Eier oder Milch. Am 45-Milliarden-Euro-Umsatz der Fleischindustrie habe das allerdings bisher kaum etwas geändert, sagt die Forscherin Rückert-John. „Den einzigen wirklichen Rückgang beim Fleischkauf gab es während der BSE-Krise.“ Sie hält den Vegan-Trend deshalb noch nicht für mehrheitsfähig. „Das ist eher ein Identitätsprojekt für ein besser gestelltes soziales Milieu.“
Aber: Nach dem jüngsten Konsum-Index der Gesellschaft für Konsumforschung lag der Umsatz für Fleischersatz und pflanzliche Brotaufstriche 2015 bei rund 311 Millionen Euro - und wuchs damit zuletzt um ein gutes Drittel. Ganz ohne Fleisch und Wurst lebten die Konsumenten deshalb nicht unbedingt. Viele Menschen machten den Kompromiss, weniger Fleisch zu essen, aber nicht völlig auf Steak oder Bratwurst zu verzichten, stellten die Konsumforscher fest. Bereits ein Drittel der Haushalte rechne sich den „Flexitariern“ zu.
Doch das ist nicht alles. Außer auf „veggie“ und „bio“ kann das Augenmerk auch ganz ohne Verdauungsprobleme auf „glutenfrei“ oder „laktosefrei“ liegen. Dazu kommt das Jonglieren mit Kohlehydraten bei high-carb und low-carb, die Steinzeitkost Paleo oder das Schwören auf Obst- und Gemüsemixgetränke - Juice oder Smoothie.
„Ernährungswahn“ nennt der Ernährungswissenschaftler Uwe Knop diese Entwicklung. Den endgültigen Schub habe der „Wahn“ bekommen, seit Ernährung der Persönlichkeitsfindung und Profilierung diene - und zum wichtigen Bestandteil des individuellen Lebensstils geworden sei: „Ich zeige, was ich esse - und damit zeige ich, was ich bin und wo ich hingehöre.“
Essen zur Identitätsbildung, die Sicherheit und Halt in einer zunehmend unsicheren Welt gibt - an diese These glaubt Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Universität Göttingen. Wenn tradierte Ordnungssysteme wie Religion und Familie an Bedeutung einbüßten, nehme die Suche nach Identitätsstiftung und Sinn an anderer Stelle zu, sagt er. Vieles von der Herkunft bis zum Wohnort lasse sich dabei schwer beeinflussen.
„Aber was ich esse, ist eine Facette des Ichs, die ich vergleichsweise leicht selbst bestimmen und ändern kann. Auch mit wenig Geld“, ergänzt Ellrott. Eine größere Rolle als das Tierwohl könnten dann Selbstinszenierung, Abgrenzung, aber auch der Wunsch nach Zugehörigkeit spielen. Solche Motive hält der Forscher für die wesentlichen Ursachen des Trends zu immer ausgefalleneren Ernährungsstilen.
Völlig neu ist die Entwicklung nicht. „Essen war immer schon an sozialen und kulturellen Status gebunden“, meint Stephan Becker-Sonnenschein, Geschäftsführer des Vereins „Die Lebensmittelwirtschaft“, der unter anderem von Supermarktketten und Fleischproduzenten gefördert wird. Dabei stand „gutes Essen“ lange auch für Wohlstand. Doch wenn alle im Wohlstand leben, scheint es angesagter, in Richtung Verzicht zu gehen.
Das hat Ping-Pong-Effekte. TV-Sendungen und Zeitschriften bieten den jüngsten Ernährungsmoden und Diäten eine große Bühne. Manche Fleisch- und Wurstproduzenten leisten sich ein veganes Nischensegment. Jan Bredack, Gründer der ersten veganen Supermarktkette „Veganz“, sieht den Trend auch marktwirtschaftlich. Der Foodmarkt eigne sich nun für Risikokapitalanleger, sagt er. „Vor fünf Jahren musste ich dem Geld hinterherrennen, heute kommen Investoren von allein“.
An der Berliner Charité sieht der Ernährungsexperte Andreas Pfeiffer die Sache unverkrampft. „Niemand isst auf die Dauer, was ihm nicht schmeckt“, sagt er. Das Gewese um tierisches und pflanzliches Eiweiß kann er, vom Tierschutz abgesehen, nicht nachvollziehen. Studien mit älteren Diabetikern hätten zum Beispiel gezeigt, dass es in der Wirkung im Körper kaum Unterschiede gebe, sagt er. Und dass fast alle Studienteilnehmer sich gesünder fühlten und abspeckten - es habe vor allem daran gelegen, dass sie weniger Snacks aßen.