Günter Grass: Moralist mit vollem Bauch
Günter Grass, der Spezialist für halbe Wahrheiten und einer der wichtigsten Schriftsteller deutscher Sprache, wird 80 Jahre alt.
<strong>Düsseldorf. Über Günter Grass zu schreiben, heißt, im Nebel zu wandern. Was aus der Ferne wie ein gespenstisches Ungeheuer erscheint, entpuppt sich, steht man davor, als brave Birke, deren dünne Äste ohne Arg im Winde wehen. Und was aus der Distanz ein kleiner Hügel zu sein scheint, das wächst sich, je näher man kommt, zum monströsen Gestein aus. Wer von Günter Grass spricht, sagt zwangsläufig immer das Falsche und das Richtige, muss, wenn er Ja sagt, auch Nein meinen - das ist die Falle des Gesteins Grass. Denn in seinem langen Leben hat er viel geschrieben und gesagt, hat Reden gehalten und Interviews gegeben, worauf in der Mediendemokratie neue Artikel und Wider-Reden folgten. Kurz: Beim Nachdenken über Grass verläuft man sich leicht in den von ihm aufgetürmten Biografie-Katakomben.
So ist es selbst Horace Engdahl, dem Chef der den Nobelpreis verleihenden Schwedischen Akademie, ergangen. "Grass hat den bösen Zauber gebrochen, der über Deutschlands Vergangenheit lag", orakelte er in seiner "Lobrede".
Vielleicht musste man sich ja gerade in dieser Lebenszeit zwischen 1927 und 1945, zwischen nationaler Großmannssucht, Kriegsinferno und totaler Niederlage, entwickeln wie - um eines der von Grass als Sinnbilder benutzten Tiere zu zitieren - ein Haken schlagender Hase.
Immerhin ist es aufschlussreich, die Linie von 1929, als Thomas Mann der Nobelpreis zuerkannt wurde, bis 1999 zu ziehen, dem Triumph-Jahr des Günter Grass: Vom noblen Großbürger und "homme de lettres" führt dieser Weg zum derb-drallen, nicht aufs Maul gefallenen Kleinbürger.
Wie wichtig ihm diese Klassifizierung ist, sagte er im vergangenen Jahr in einer Diskussion mit Martin Walser und der Zeitung "Die Zeit": Seine kleinbürgerliche Herkunft sei ihm "eine dauernde Quelle der Inspiration und des Einfallsreichtums". Überhaupt sei "die Internationale der Kleinbürger die einzig funktionierende".
Auch dies eine erstaunliche Entwicklung, denn früher hat Grass die sozialistische Internationale ("erkämpft das Menschenrecht") gepriesen. In seinem Bekenner-Interview mit der "FAZ" wiederum hatte er den Nazis wie auch der Adenauer-Ära das "miefig Kleinbürgerliche" böse angekreidet.
Aber eine geänderte Großwetterlage kann neue Einsichten und Notwendigkeiten mit sich bringen. Und im Grunde kehrt er mit diesen Auffassungen nur ins frühere Danzig zu seinen Eltern zurück, der Mutter, die eine katholische Slawin war, und dem Vater, einem deutschen Lutheraner.
In den Texten jener Jahre leuchten frische Farben auf, riecht es nach Fisch-, Gemüse- und Gewürzmarkt, mal nach der Ostsee mit viel grünem Lauch, mal nach Herbstwald.
Es ist lustig, alte Kritiken über die "Blechtrommel" zu lesen, aus einer wahrlich anderen Zeit. Ein "Ausbund an Grässlichkeit und Hässlichkeit" sei dieser Oskar, hier feiere Schamlosigkeit Triumphe.
Jenseits aller erfrischenden Frechheit ist Grass nun Lehrer und Belehrer, der auf sein Recht als Besserwisser pocht und Moral verabreichen will.
"Entsetzt sehen wir, dass der Kapitalismus, seitdem sein Bruder, der Sozialismus, für tot erklärt wurde, vom Größenwahn bewegt ist und sich ungehemmt auszutoben begonnen hat."
In seiner Nobelpreisrede, 1999
Zu Oskar Lafontaine, der die rot-grüne Koalition heftig kritisiert hatte, 1999
Zur Eröffnung des PEN-Kongresses in Berlin, 2006
"Kaum jemand lag mit seinen Analysen so oft und so gründlich daneben, und kaum jemand wird für sein ständiges Danebengreifen so verehrt wie Grass. Denn er verkörpert eine wichtige deutsche Tugend: Standhaftigkeit um ihrer selbst willen."
"Schlimmer als einen Irrtum zu begehen ist es, keine Konsequenz daraus zu ziehen. Und das hat Grass schon lange gemacht. Für mich verliert er durch diese Öffnung nicht an moralischer Glaubwürdigkeit."
"Ekelhafte Altmännerliteratur aus der Hand der Großvätergeneration."