Heimelige Beständigkeit - Bräuche geben Halt
Bremen (dpa) - Wir sind modern, flexibel und übers Smartphone immer auf dem Laufenden. Doch beim Oktoberfest oder Hochzeiten mögen wir's richtig schön traditionell. Die Welt verändert sich ständig.
Bräuche geben da Sicherheit.
In Bayern feiern Studentinnen an ihrem 25. Geburtstag seit kurzem Schachtelfest, zu Neujahr essen viele Ostfriesen wieder die traditionellen Speckendicken und Junggesellenabschiede sind inzwischen überall in Deutschland verbreitet. Bräuche kommen und gehen. Manche sind plötzlich wieder angesagt, andere wandeln sich mit der Zeit oder werden durch Neue ersetzt. Doch ganz ohne liebgewonnene Traditionen geht es nicht - trotz Globalisierung und Hightech. Oder vielleicht gerade deshalb?
In Niedersachsen hat Julia Schulte to Bühne auf jeden Fall wieder mehr Interesse an regionalen Gepflogenheiten ausgemacht. „Spätestens wenn die Leute Kinder haben, ist ihnen das wieder wichtiger. Sie interessieren sich für ihr Umfeld und wollen Dinge erklären können“, sagt die Geschäftsführerin des niedersächsischen Heimatbundes. Mit ihren festgelegten Spielregeln bieten Bräuche eine Orientierung in der für viele immer unübersichtlicher werdenden Welt. Alles ändert sich ständig, nur die Traditionen bleiben. Das gibt Halt.
„Heute gibt es eher ein zu wenig an Konventionen“, bestätigt auch der Trendforscher Andreas Steinle vom Zukunftsinstitut im hessischen Kelkheim. Das heißt aber nicht, dass es wieder so streng zugehen muss wie zu Großmutters Zeiten. Gerade weil kein Zwang dahinter steht, macht es Spaß. So feiern Schüler und Studenten rauschende Absolventenbälle, in den 70ern noch der Inbegriff von Spießigkeit. Und beim Oktoberfest trägt selbst die Jugend ganz selbstverständlich Lederhose und Dirndl. „Man kann im begrenzten Rahmen aus dem Alltag ausbrechen. Das ist aufregend“, erläutert Steinle.
Ob im Karnevalsverein, bei der Kür der Heidekönigin, den vielen Kürbis- oder Kartoffelfesten im Herbst oder eben beim ostfriesischen Speckendicken-Essen - das sind übrigens süße Pfannkuchen mit Mettwurst und Speck -, es treffen Menschen aufeinander, die sonst nicht viel gemeinsam hätten. Für Gesprächsstoff ist dabei trotzdem gleich gesorgt. „Es gibt das Bedürfnis, zu besonderen Ereignissen zusammenzukommen“, hat Helmut Collmann, Präsident vom Regionalverband Ostfriesische Landschaft festgestellt. „Speckendicken-Essen war eigentlich passé.“ Doch jetzt ist es beliebt wie schon lange nicht mehr.
Deshalb sind Bräuche auf dem Land auch weiter verbreitet als in der Stadt, wo sich die Menschen in der Kneipe, im Theater oder Kino treffen. Doch selbst im ländlich geprägten Ostfriesland sterben alte Sitten aus. „Zu meiner Kindheit war es noch üblich, dass man sich in der Nachbarschaft zum Bohnenstrüppen traf“, sagt der 73-jährige Collmann. Nach der Ernte kam man zusammen, um die Ansätze der Bohnen abzuschneiden, den Faden zu entfernen und dabei die Neuigkeiten aus dem Dorf auszutauschen. Mittlerweile macht das niemand mehr.
So ergeht es vielen Bräuchen in Deutschland, die eng mit der Landwirtschaft verbunden sind. Früher prägten die Natur und die Jahreszeiten den Alltag der Menschen. Heute bekommt man alles in großen Mengen und zu jeder Zeit im Supermarkt. „Bräuche wandeln sich mit der Gesellschaft“, sagt die Augsburger Volkskundlerin Margaretha Schweiger-Wilhelm. „Junge Leute brechen mit den strengen Regeln und erfinden was Neues dazu.“
Als Beispiel nennt sie das Stehlen des Maibaums, der in vielen Regionen aufgestellt wird. Üblicherweise bewachen ihn mehrere junge Männer in der Nacht davor - heute koordiniert über ihr Smartphone. Für die Forscherin sind solche Entwicklungen besonders spannend. Sie hat das „Brauchwiki“ ins Leben gerufen, das 2009 aus einem Studentenprojekt entstanden ist. 320 bayerische, deutsche oder internationale Bräuche listet die Internetplattform, und sie wächst kontinuierlich - schon allein, weil es regional so große Unterschiede gibt.
Aber auch Einwanderer bringen neue Bräuche nach Deutschland mit oder übernehmen einen Teil unserer Traditionen. In Augsburg basteln türkische Mütter ihren Kindern inzwischen zum Beispiel einen Ramadankalender, wie Schweiger-Wilhelm erzählt. Dieser zählt wie der Adventskalender die Tage bis zum großen Fest runter. Süßigkeiten enthält er zwar nicht, dafür aber Bilder und Koransuren.