London im Würgegriff der Gewalt

Mordserie: Fast täglich sterben junge Menschen durch Messerstiche.

London. Es war menschlich, aber fast absurd, wie sich die Passanten um Dee Willis kümmerten. Mit Taschentüchern versuchten sie vergeblich, die Blutungen aus den tiefen Stichwunden der 28-Jährigen zu stoppen. Sie starb - als ein weiteres Opfer einer Serie von Messerattacken, die ganz London verängstigt.

Der Bezirk, in dem der Tatort liegt, ist in London berüchtigt: Peckham gilt als gefährliches Pflaster. Doch die Gegend in Peckham, in der Dee Willis nach einem Streit von einer unbekannten Frau erstochen wurde, ist kein heruntergekommenes Armenviertel, sondern hell und freundlich. An der Straße gibt es orientalische Imbisse, Buchhändler und eine Kunsthochschule.

Shakilus Townsend war erst 16 Jahre alt. Er starb am Donnerstag, nachdem er am hellichten Tag auf einer Straße im Süden der Stadt von einer Gruppe Jugendlicher verfolgt und schließlich mit einem Messer niedergestochen worden war. Entsetzte Augenzeugen versuchten noch, den Jungen wiederzubeleben, doch sein Blutverlust aus mehreren Stichwunden war zu groß. Shakilus ist der 18. Teenager, der in diesem Jahr in London ermordet wurde. 27 waren es 2007.

Britische Politiker reagieren so alarmiert wie kopflos. Sie würde nachts eben nicht allein durch Hackney, ein Viertel in Nordlondon, laufen, sagte letztens Innenministerin Jacqui Smith. Prima, dachten sich die über 200000 Bewohner von Hackney, die hier zwangsläufig mal alleine unterwegs sind. In einer ironischen Wende des Schicksals verblutete in dieser Woche aber nicht hier, sondern ausgerechnet in dem Viertel der Innenministerin eine junge Frau nach einem Messerangriff.

Bei der Frage, ob die Messergewalt in London nun tatsächlich eskaliert oder diese Woche einfach aus vielen, schlimmen Zufällen besteht, sollte man ohnehin nicht den Zahlen der Politiker vertrauen. Es gibt andere, aussagekräftigere, und zwar direkt aus der Mitte dieses Dramas. Die Notärzte der Stadt haben eine Verdopplung der Stichverletzungen bei Jugendlichen registriert. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl verletzter Jugendlicher unter 16 Jahren sogar um 88 Prozent gestiegen.

Einen Grund für die Gewaltwelle sieht John Pitts im veränderten Drogengeschäft der rund 170 Gangs in der Stadt. "Es ständig am Laufen zu halten, erfordert großen Einsatz", sagt der Wissenschaftler von der Uni Bedfordshire. "Die kriminellen Aktivitäten von 40 Gang-Mitgliedern können letztlich das Leben von 6000 Menschen beeinflussen."

Eine Polizeipräsidentin macht den Zusammenbruch von Familienstrukturen für die Gangkultur verantwortlich. "Gewalt und Drogen sind ein Lebensstil in den Armenvierteln englischer Großstädte geworden", resümiert Barbara Wilding. "Die Jugendlichen tun sich in verwilderten, fast rasend wütenden Stammesgruppen zusammen - deren Loyalität ersetzt die verlorene Familie."

Der Ort, an dem der 16-jährige Ben Kinsella, Bruder der Schauspielerin Brooke Kinsella, am Wochenende tödlich verletzt wurde, ist ein Altar voller Blumen und Arsenal-Fanartikeln. "Hoffentlich wird Ben das letzte Opfer sein", hatte seine Schwester direkt nach der Tat gesagt. Ihre Hoffnung hat sich nicht erfüllt.