Lüttich-Amoklauf: Angst vor Haft als Motiv?

Lüttich (dpa) - Angst vor dem Gefängnis soll Nordine A. zum Amokläufer gemacht haben: Am Tag der Bluttat im belgischen Lüttich war er zu einem Verhör aufs Polizeirevier bestellt. Dort lag eine Anzeige gegen ihn wegen eines Sittlichkeitsvergehens vor.

Doch der wegen illegalen Waffenbesitzes vorbestrafte Mann erschien dort nie. Nordine A. drehte durch. Bei seinem Amoklauf am Dienstag tötete der Mann mindestens vier Menschen. Mehr als 120 Personen verletzte er. Dann nahm er sich das Leben.

„Er hatte Furcht, wieder inhaftiert zu werden“, sagte der Anwalt von Nordine A. der Zeitung „La Libre Belgique“. Sein Mandant habe ihn deswegen am Montag und Dienstag immer wieder angerufen. Auch die belgische Innenministerin Joëlle Milquet schloss sich dieser Vermutung im Rundfunk an.

Der Mann, der nach Medienberichten marokkanische Wurzeln hat, war 2008 zu einer Haftstrafe von mehr als vier Jahren verurteilt worden, wurde aber vorzeitig unter Auflagen wieder aus der Haft entlassen. Bei seiner Verurteilung ging es um Drogen- und Waffenbesitz. Laut Nachrichtenagentur Belga hatten Fahnder bei ihm ein Arsenal von mehr als 9500 - zum Teil schweren - Waffen sowie knapp 3000 Cannabis-Pflanzen gefunden.

Laut Staatsanwaltschaft hinterließ der Täter keinen Abschiedsbrief. Vor seiner Tat habe Nordine A. seiner Freundin Geld überwiesen, berichtet die Onlineausgabe der belgischen Zeitung „Le Soir“ unter Berufung auf die Regionalzeitungsgruppe „Sudpresse“. Die Überweisung sei von den Worten begleitet gewesen: „Ich liebe Dich, mein Schatz. Viel Glück!“

Am Dienstag sollte der Mann wieder vernommen werden, teilte die Staatsanwältin mit. Bereits Mitte November seien erstmals seit seiner Entlassung wieder Vorwürfe bekannt geworden, diesmal ging es um Sittlichkeitsvergehen. Dazu zählen Sexualdelikte wie Missbrauch oder sexuelle Gewalt, aber auch die Verbreitung von Kinderpornografie. Details nannte die Staatsanwaltschaft nicht.

Statt zum Polizeirevier ging Nordine schwer bewaffnet Richtung Innenstadt. Auf einem zentralen Platz gleich neben dem Weihnachtsmarkt warf er gegen 12.30 Uhr drei Handgranaten in Richtung einer Menschenmenge, die auf der Place Saint-Lambert an einer Bushaltestelle wartete. Zugleich eröffnete er das Feuer.

Anschließend tötete der Mann sich mit einem Schuss in den Kopf, berichtete die Staatsanwältin Danièle Reynders. Dieser Aspekt ist nach Worten eines zweiten Staatsanwalts von Lüttich allerdings noch nicht abschließend geklärt. Möglicherweise sei der Mann beim Zünden der Handgranate gestorben.

Bereits vor dem Anschlag erschoss der Mann nach Angaben der Staatsanwaltschaft die Reinemachefrau eines Nachbarn - und zog dann Richtung Weihnachtsmarkt weiter, berichtete die Nachrichtenagentur Belga.

In der Nähe des Weihnachtsmarktes wurde in einem Schuppen, den der Mann zum Cannabisanbau nutzte, die Leiche einer 45-jährigen Putzfrau gefunden. Zwei Jugendliche im Alter von 15 und 17 Jahren starben, später auch ein 17 Monate altes Kleinkind. Einschließlich des Täters starben fünf Menschen. Zunächst war von sechs Toten die Rede gewesen. In der Tasche des Amokläufers wurden weitere, nicht abgefeuerte Waffen gefunden.

Viele Menschen gedachten am Mittwoch im belgischen Lüttich der Opfer des Amoklaufs. Am Tatort erinnerten Blumen und Kerzen an die Toten. Äußerlich ging das Leben in Lüttich wieder seinen gewohnten Gang. „Lasst uns in Lüttich als Stadt des Friedens leben“, war auf einem Zettel zu lesen.

Eine 75-jährige Frau, die zunächst für tot erklärt worden war, habe überlebt, sagte Staatsanwältin Reynders. Ein Viertel der Verletzten werde von Psychologen betreut. Fünf Opfer seien in kritischem Zustand, berichtete Belga. Darunter sind die 75-Jährige und ein 20-Jähriger, der am Kopf operiert worden sei.

Der belgische Außenminister Didier Reynders zeigte sich tief betroffen. „Ein Junge aus der Schule meiner Tochter ist auf der Place Saint-Lambert gestorben. Das ist schwer zu ertragen.“

Im Rathaus der Stadt sowie in der Schule, wo zwei Schüler zu den Opfern zählten, wurden am Mittwoch Kondolenzbücher ausgelegt. Für Sonntag (18. Dezember) ist ein Trauermarsch durch die Innenstadt geplant. Das Regionalparlament der Wallonie legte am Mittwoch eine Schweigeminute ein.