Mölbis: Kunterbunt statt schwarz-grau
Als „schmutzigstes Dorf der DDR“ wurde Mölbis berühmt. Tonnen von Braunkohledreck rieselten auf das Dorf. Mit dem Mauerfall begann das Aufatmen.
Düsseldorf. Grau. Braun. Schwarz. Im Winter konnte man in Mölbis, dem schmutzigsten Dorf der DDR, an der Farbe des Schnees erkennen, welcher Teil des VEB Braunkohleveredlungswerkes Espenhain gerade Dreck spuckte. „Grau war das Kraftwerk. Braun war die Kohletrocknung. Schwarz war die Schwelerei“, erinnert sich Karl-Heinz Dallmann, der frühere Pfarrer von Mölbis. Heute sitzt Dallmann auf der Terrasse seines Hauses und blickt auf ein verwandeltes Dorf. Der Mauerfall vor 25 Jahren und der Untergang der DDR waren die Rettung für Mölbis.
Kaum einen Kilometer Luftlinie lag der Ort von den rauchenden Schloten entfernt. Südwestwind — und der wehte oft — brachte unvorstellbare Mengen Dreck. „Wir hatten dann 300 Meter Sichtweite, und rundum war Sonnenschein. Mölbis lag unter einer Dunstglocke. Das kratzte im Hals, man wusste nicht, wie man atmen sollte“, erzählt der 68-jährige Dallmann. Espenhain — der Tagebau war in der geschundenen Leipziger Braunkohleregion das Synonym für Dreck, Gestank und hemmungslose Umweltzerstörung.
In den 80er Jahren, erzählt der Kirchenmann Dallmann ebenso wie der damalige SED-Bürgermeister Ditmar Haym, konnte eigentlich niemand mehr den Blick vor der Realität verschließen. Die DDR war, zumindest in Mölbis, zur unbewohnbaren Republik geworden. „Stagnation, Umweltverschmutzung, Perspektivlosigkeit“: Der Ex-Bürgermeister wählt Schlagworte, um die damalige Situation zu beschreiben. 324 Einwohner harrten 1989 noch in Mölbis aus.
Trotzdem, sagt Haym, der 1984 als 34-Jähriger Bürgermeister wurde, habe er stets für sein Heimatdorf kämpfen wollen. Der Mann ist das, was man einen zupackenden, hemdsärmeligen Typen nennt. „Weil die Ortsgemeinschaft vorhanden war. Wir hatten Sportverein, Chor, Feuerwehr. Das kulturelle Leben funktionierte. Man konnte nur die gesellschaftlichen Verhältnisse verdammen.“ Den Titel „schmutzigstes Dorf der DDR“ bekam Mölbis in der Wendezeit verpasst, als die Öffentlichkeit auf die Zustände aufmerksam wurde.
„Oben auf der Halde haben wir die Umweltdaten des Werkes verlesen“, sagt Dallmann. Pro Tag habe Espenhain 20 Tonnen Schwefeldioxid, 4,5 Tonnen Ammoniak, 1,5 Tonnen Schwefelwasserstoff und 4,5 Tonnen andere Stoffe, die bei der Kohleveredlung anfallen, in die Luft geblasen. Ungefiltert. „Die Daten wurden uns aus dem Werk zugespielt“, sagt Dallmann. Er wisse bis heute nicht, von wem. „Aber ich glaube, auch die im Werk wussten, dass es ihre einzige Möglichkeit war, das der Kirche zuzuspielen.“
Und dann fiel 1989 die Mauer. „Ich habe am 27. Januar 1990 eine Bevölkerungsbefragung gemacht. 77 Prozent der Mölbiser waren für Aussiedlung, 23 Prozent fürs Hierbleiben“, sagt Haym. Erst nach der Deutschen Einheit 1990 sei die Stimmung gekippt. „Die Leute hatten Vertrauen geschöpft, dass es anders werden kann, auch in Mölbis.“ Haym, inzwischen aus der SED ausgetreten, wurde wieder zum Bürgermeister gewählt. Und machte sich ans Werk.
Blau. Grün. Gelb. Das Farbenspiel in Mölbis hat sich verändert. Pfarrer Dallmann, seit 2010 im Ruhestand, wohnt in einem modernen blauen Hausquader. Andere Neubauten im Dorf leuchten lindgrün oder sonnengelb. Dallmann zeigt auf die Koniferen in seinem Garten und sagt: „Sowas wäre hier früher nicht gewachsen. Die einzigen Bäume waren Pappeln und Birken. Andere Kulturpflanzen sind nach zwei Tagen eingegangen.“
Der Aufschwung kam Anfang der 90er, „in dem Augenblick, wo die Luftverschmutzung aufhörte“, sagt Dallmann. Die Einwohnerzahl kletterte bis 1999 auf knapp 600, inzwischen stagniert sie. Haym erinnert sich: „Fördermittel gab es ausreichend.“ Die Kreditanstalt für Wiederaufbau bewilligte eine Anschubfinanzierung von 1,7 Millionen D-Mark.
Das Ende der Carbochemie in Espenhain, noch 1990 vom Ministerrat der DDR besiegelt, bedeutete aber auch den Verlust Tausender Arbeitsplätze. 6504 Menschen arbeiteten im November 1989 im Braunkohleveredlungswerk. „Wie sagte mir ein Mölbiser“, erinnert sich der Pfarrer: „Früher hatten wir jede Menge Dreck, aber Verdienst. Jetzt haben wir saubere Luft, aber kein Geld.“
Von der Erinnerung allein kann man nicht leben, auch wenn sie wachgehalten wird in Mölbis. In der restaurierten Orangerie des nicht mehr existenten Schlosses zeigen Fotos die graue Wirklichkeit vor 1989. Auch hochfliegende, aber nie realisierte Pläne wie der Bau eines Fußballstadions sind dokumentiert. „Hirngespinste“, sagt Haym. „Unsere Zukunft hat schon begonnen.“ Es klingt immer noch wie eine Mahnung.
Unterm Strich sagen Dallmann wie Haym, der seit vielen Jahren Chef einer eigens gegründeten Dorfentwicklungsgesellschaft ist: Mölbis ist ein lebenswertes Fleckchen Erde. Der gemischte Chor Harmonie singt immer noch, der Fußballverein spielt in der 1. Kreisklasse, Angler- und Bastelkreis treffen sich regelmäßig. Seit ein paar Jahren gibt es sogar wieder einen Tante-Emma-Laden. Haym urteilt: „Es ist so, dass ich sagen würde: Der Ort ist nicht tot.“