Nikolaus Schneider: Streiter für Gerechtigkeit

Am 3. September wird der Präses der rheinischen Landeskirche 60. Er wünscht sich eine Gesellschaft, die die Schwachen nicht vergisst.

Herr Präses, Sie stammen aus einem unkirchlichen Elternhaus. Wie sind Sie da überhaupt zur Kirche gekommen?

Schneider: Das hatte mit einem guten Religionsunterricht zu tun. Mein Religionslehrer am Gymnasium konnte meiner Mutter vermitteln, dass religiöses Wissen zu einer guten Bildung dazu gehört. Dann kam die Frage: Konfirmandenunterricht - ja oder nein. Ich habe mich dafür entschieden. Und bald hat sich das bei mir so verdichtet, dass ich mich habe taufen lassen.

Wie alt waren Sie da?

Schneider: Fünfzehn.

Sie sagen: Wer an Gott glaubt, darf der Institution Kirche nicht fern bleiben.

Schneider: Richtig.

Warum?

Schneider: Ich brauche die Gemeinschaft der anderen, sonst werde ich irgendwie komisch in meinem Glauben. Ich brauche sie als Korrektiv, als Stärkung, auch als Ermutigung.

Sie werden als Theologe mit starkem sozialethischen Profil beschrieben. Mit Recht?

Schneider: Sozialethik hat mich von Beginn meines Studiums an interessiert. Aber ich höre es nicht gern, wenn sie als Alternative zu einer biblischen Fundierung betrachtet wird. Bei mir hat das sozialethische Engagement unmittelbar mit meiner biblischen Verwurzelung zu tun. Die Bibel warnt vor Habgier, Missgunst und Ausbeutung, und sie ist eine ständige Einladung dazu, mit den Menschen umzugehen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Da geht es um persönliche Wohltätigkeit, aber es kommt vor allem auch auf gesellschaftliche Strukturen an. Das heißt: Welche Sozialgesetze, welche Wirtschaftsgesetze, welche Steuergesetze haben wir, und wie sorgen diese Gesetze dafür, dass Menschen eine materielle Basis für ihr Leben bekommen?

Was heißt das konkret?

Schneider: Man muss sich die Hartz-Gesetze angucken. Nochmal! Ich finde, sie sind revisionsbedürftig. Was etwa die Höhe des Geldes angeht, so wird von unseren Fachleuten aus der Diakonie gesagt, dass man sich davon nicht gesund ernähren kann. Darüber hinaus bin sehr dafür, dass wir uns darum bemühen, möglichst viele Arbeitsplätze anzubieten. Das ist in unserer Gesellschaft die Kernfrage - genügend Arbeit. Wenn die Wirtschaft das nicht schafft, dann gibt es eine öffentliche Aufgabe, ergänzend etwas zu tun. Ich bin für den zweiten Arbeitsmarkt. Es gibt genügend Arbeit in öffentlichen Bereichen, etwa in der Wohlfahrtspflege. Und ich glaube, es gibt Finanzierungsmöglichkeiten, dass dabei das Handwerk keinen Schaden nimmt.

Fordern Sie den Mindestlohn?

Schneider: Es gibt Arbeitsverhältnisse, die sind so ausgestattet, dass Menschen davon nicht leben können. Gleichzeitig gibt es Arbeitgeber, die solche Arbeit anbieten und die davon sehr gut leben können. Hier sehe ich ein Problem. Deshalb bin ich dafür, dass es da einen Mindestlohn gibt, wie immer der ausgehandelt wird.

Fromm - und links?

Schneider: Ich habe den Anspruch, dass meine Positionen biblisch zu begründen und vernünftig sind. Sie müssen machbar sein, und sie müssen den Menschen helfen. Ich halte aber nichts von Etiketten. Aus diesem Alter bin ich seit, naja, mindestens 20 Jahren raus.

Sie sagen: Die humane Qualität einer Gesellschaft wird daran gemessen, wie sie mit ihren schwächsten Gliedern umgeht . . .

Schneider: . . . und ich würde anschließen: Unsere Gesellschaft ist noch in einem sehr ordentlichen Zustand. Aber sie ist in einem gefährlichen Trend. Ich glaube, wir leben in einer Übergangszeit, in der sich entscheiden wird, ob das bei uns künftig nach einem Gesellschaftsmodell funktioniert, das mehr im englischen/amerikanischen Bereich verbreitet ist, das Gemeinschaftsaufgaben anders betrachtet als im kontinentaleuropäischen Kontext. Wo Gerechtigkeit heißt, dass jeder sich erstmal richtig anstrengen muss, und wer Pech hat, der hat eben Pech. Ein Modell, das damit leben kann, dass es riesige Unterschiede gibt zwischen Arm und Reich. Und das akzeptiert, dass eine Gesellschaft massive Gewalt erlebt. Ich halte diesen Weg für falsch. In einer solchen Gesellschaft möchte ich nicht leben.

Was kann eine Kirche mit abnehmender gesellschaftlicher Kraft dagegen tun?

Schneider: Der wichtigste Beitrag ist, das Evangelium unter die Leute zu bringen, damit Menschen geprägt werden. Was das diakonische Engagement angeht, sind wir immer noch sehr breit aufgestellt. Und ich erlebe, dass es ein neues Fragen gibt aus Parteien, aus Gewerkschaften, aus den Verbänden: Was ist der weitere Weg unserer Gesellschaft? Was ist das Konzept, nach dem diese Gesellschaft gestaltet werden soll? Da sind die Kirchen durchaus gefragt, als Gesprächspartner, aber auch als gestaltender Faktor. Daher werde ich mit Blick auf die Zukunft unserer Kirche gar nicht depressiv, weil ich glaube, dass wir in neuer Konzentration auf unsere Aufgaben und Stärken gesellschaftlich sehr präsent bleiben werden.

Lässt sich ein hohes kirchliches Amt mit Familienleben vereinbaren?

Schneider: Unbedingt, aber es braucht ein Konzept. Wir zum Beispiel geben einander an möglichst vielen Dingen Anteil. Das heißt, dass meine Frau Anne nach wie vor meine wichtigste Gesprächspartnerin ist. Wenn es um Predigten, um Reden, Ansprachen oder Vorträge geht, suche ich immer den Austausch mit ihr.

Ihre Tochter Meike starb 2005 an Leukämie. Wie steht ein Vater den Verlust seines Kindes durch?

Schneider: Zunächst ist man völlig fassungslos. Das ist mit Worten kaum zu beschreiben, was da passiert. Was mich sehr trägt, ist mein Glaube, dass ich sowohl für unsere gestorbene Tochter als auch für uns weiß, dass wir in Gottes Hand geborgen sind. Was hilft, ist eine gute Familie - wir haben eine sehr vertrauensvolle, liebevolle Beziehung zueinander, die tröstet und stärkt und aufrichtet -, Freundschaft und eine Kirche.

Wofür kann sich der Theologe Schneider neben Glaube und Kirche so begeistern?