Obdachlosigkeit: Der Mann aus dem Schließfach
Der drogenabhängige Mike K. (29) schläft im Düsseldorfer Hauptbahnhof.
Düsseldorf. Wenn die Müdigkeit Mike K. überwältigt, macht sich der schmächtige und nur 1,55 Meter große Mann noch kleiner. Er zwängt sich in ein Schließfach am Düsseldorfer Hauptbahnhof, zieht die Beine an, lässt die Tür einen Spalt offen und schläft erschöpft ein.
Das ein Meter mal 60 Zentimeter große Gepäck-Schließfach ist dann sein Heim. Einem Hund würde man so etwas nicht zumuten. Als "Mann aus dem Schließfach" hat es der 29-Jährige zu einiger Bekanntheit gebracht. Weil Bahn- Mitarbeiter ihn immer wieder aus dem Fach zerren müssen, soll er nun wegen Hausfriedensbruchs ins Gefängnis.
Sein Anwalt ist empört. Der todkranke junge Mann gehört aus seiner Sicht "betreut und nicht bestraft". Mike ist ein Schwerstabhängiger von Heroin und Kokain, er ist HIV positiv und hat Hepatitis.
Ins Gefängnis soll er, weil er im Hauptbahnhof seit Jahren das Hausverbot missachtet, dort bettelt und immer wieder schläft. Rund 200 Anzeigen haben die Sicherheitsmitarbeiter der Bahn ihm verpasst. Die lassen sich immer wieder neue Tricks - wie Wasser-über-den-Kopf gießen - einfallen, um den gelenkigen Mann aus seinem unbequemen Schlafquartier zu vertrieben.
Neun Monate ohne Bewährung hat das Amtsgericht gegen den Obdachlosen verhängt, nun läuft die Berufung. Eines Tages könnte sich die Justiz für solche Urteile schämen, wettert der Pflichtverteidiger. Er habe selten einen Drogenabhängigen gesehen, dem es so schlecht gehe.
Richter Stefan Drees versucht, dem schwitzenden Angeklagten eine goldene Brücke zu bauen, schließlich hat der Schläfer im Schließfach nicht einmal einen Schaden verursacht: stationäre Therapie statt Knast. Wenn er durchhält, wird der Rest der Zeit zur Bewährung ausgesetzt.
Doch Mike K. ist Realist, zumindest was seinen Durchhaltewillen angeht: "Ich habe es so oft versucht. Wenn es sinnvoll wäre, würde ich es tun. Aber ich habe so oft versagt, das will keine Krankenkasse mehr zahlen." Ins Gefängnis will er aber auf keinen Fall: "Ich habe doch nur versucht, zu überleben." Außerdem habe er inzwischen Unterschlupf bei einem Freund gefunden.
Im Gerichtssaal L115 des Landgerichts macht sich Ratlosigkeit breit. "Wir haben im Strafrecht keine anderen Mittel", sagt der Staatsanwalt. "Was soll denn nach neun Monaten Knast passieren?", fragt der Verteidiger. "Eine gute Prognose gibt es jedenfalls nicht", befindet der Richter. Schließlich ist der Bahnhof Mikes "Arbeitsplatz". Nur dort kann er sich schnell genug Geld für den nächsten Schuss Heroin erbetteln. Sein Lebensrhythmus wird vom Entzug bestimmt und der vernichtet regelmäßig alle guten Vorsätze.
Deswegen ist auch ein Obdachlosenasyl für Mike keine Alternative: Dort wird pünktliches Erscheinen verlangt. Deswegen kommt Mike auch mit halbstündiger Verspätung zu seinem eigenen Prozess, nachdem er den ersten Termin schon hat platzen lassen. Damals hatte der Richter Polizisten geschickt, die auf ein Häuflein Elend gestoßen waren, das sie als weder transport- geschweige denn verhandlungsfähig einstuften. Er müsse wegen des HI-Virus "dringend was unternehmen", bevor er an Aids erkrankt, weiß Mike - wieder so ein guter Vorsatz.
Am Ende beschließt das Gericht, den Mann aus dem Schließfach psychiatrisch untersuchen zu lassen. Vielleicht ist er gar nicht schuldfähig, vielleicht gehört er in einer Anstalt untergebracht. Vielleicht ist das seine letzte Chance. Nach eineinhalb Stunden Verhandlung hat Mike dunkle Ringe unter den Augen, er wirkt gequält.
Die Sicherheitsmitarbeiter der Bahn, als Zeugen im Gerichtssaal, ahnen, wie es um ihren alten Bekannten steht: "Viel Glück, Mike!", rufen sie ihm am Verhandlungsende zu.