Porträt Ulrich Tukur: Immer schon „zeitungleich“
Ulrich Tukur hat sich auf die Verkörperung historischer Personen spezialisiert und macht dabei emotional verständlich, was mit dem Verstand oft kaum zu fassen ist.
Eigentlich würde er jederzeit lieber in einem guten Theaterstück als in einem schlechten Fernsehfilm mitspielen, doch inzwischen hat Ulrich Tukur ernsthafte Zweifel daran, ob die Bühne noch eine sinnvolle Alternative hergibt.
Die großen Zeiten, als er unter der Regie von Peter Zadek in Joshua Sobols "Ghetto" brillierte, mit Shakespeares "Wie es euch gefällt", "Julius Cäsar" und "Hamlet" für Schlagzeilen sorgte, zum Schauspieler des Jahres gekürt wurde und als Intendant die Hamburger Kammerspiele leitete, scheinen erst einmal vorbei zu sein.
Das aktuelle Theaterleben, das sich kaum noch kämpferisch und wenig kreativ mit den wichtigen Themen der Zeit auseinandersetze, sei für ihn einfach "nicht mehr die Welt", bekannte der gefeierte, wegen seiner souveränen, stets eindringlichen Darstellung mehrfach preisgekrönte Bühnenstar vor Kurzem: "Ich finde das deutsche Theater ziemlich schlimm, das pennt total und es ist überhaupt nichts los."
Bis sich an diesem Zustand oder an Tukurs Einstellung Entscheidendes ändert, gibt es für den bald 51-Jährigen allerdings eine Reihe vielversprechender Optionen. Mit den Rhythmus Boys hat er mittlerweile ein halbes Dutzend Platten aufgenommen und leicht angestaubten Klassikern wie "Es war ein Mädchen und ein Matrose", "Skandal im Harem" oder "Haben Sie für mich mal ’ne Minute" zu neuem Glanz verholfen. Daneben entstanden Bühnenprogramme und Hörbücher wie das Heinrich Heine-Porträt "Ich hab’ im Traum geweinet", und auch als Schriftsteller hat sich Ulrich Tukur, der mit der Fotografin Katharina John in Venedig auf der Insel Giudecca lebt, einen Namen gemacht. Der Erzählband "Die Seerose im Speisesaal" setzte sich elegant über die Befürchtungen seines Autors - "Eigentlich ist Venedig ja schon in Grund und Boden geschrieben worden!" - hinweg und fand bei Lesern und Kritikern gleichermaßen großen Anklang.
Das gilt erst recht für Tukurs Filmkarriere, die in diesem Jahr gleich mehrere Fortsetzungen findet. Ende Juli kommt "42plus" in die Kinos, eine giftige Beziehungskomödie von Sabine Derflinger, die mit Claudia Michelsen, Petra Morzé, Tobias Moretti und Jacob Matschenz hochkarätig besetzt ist. Tukur spielt einen vielbeschäftigten Arzt, für den das berufliche Fortkommen seit Jahren an erster Stelle steht. Ehefrau Christine hat sich derweil einen funktionalen Hausfreund zugelegt und verliebt sich im Urlaub obendrein in einen jugendlichen Tramper.
Was nach leichter Sommerkomödie klingt, hat bei näherem Hinsehen viel mit inneren Verletzungen zu tun, weiß Ulrich Tukur, der sich während der Dreharbeiten oft Gedanken über eigene, vergleichbare Erfahrungen machte: "Sabine Derflinger zeigt den verzweifelten Versuch zweier Menschen, wieder zusammen zu finden. Es ist ein seltsames Lebensprinzip, das ich auch bei mir selbst beobachtet habe: Wenn der eine endlich nachgibt, zieht sich der andere zurück. Wie zwei Magnete, die falsch gepolt sind. Wenn der eine will, will der andere nicht."
Am 1.August begegnen die Fernsehzuschauer Tukur in dem Dokumentardrama "Der Mann, dem die Frauen vertrauten", für das der Schauspieler in die Rolle des Serienmörders Horst David schlüpfte. Der "Würger von Regensburg" erdrosselte zwischen 1975 und 1993 sieben Frauen und wurde zu einer zweimal lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt.
Für den 23.Oktober steht dann schon die Kinopremiere des Dramas "Nordwand" an, in dem Tukur einen linientreuen Reporter spielt, der 1936 über die Erstbesteigung der Eiger Nordwand berichten will.
Anschließend wird er in der Rolle des deutschen Kaufmanns John Rabe zu sehen sein, der 1937 rund 250000 Menschen vor dem "Massaker von Nanking" rettete und als "Schindler Chinas" in die Geschichte einging.
Ulrich Tukur kehrt damit gleich mehrfach auf ein Terrain zurück, auf dem er sich besonders wohlfühlt und einige seiner größten Erfolge feierte. Denn der Schauspieler, der seine Schulzeit in Boston verbrachte und in Tübingen Germanistik, Anglistik und Geschichte studierte, bevor er an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart eine Ausbildung begann, hat sich seit vielen Jahren auf die Verkörperung historischer Personen und Persönlichkeiten spezialisiert.
Seine Darstellung folgt dabei nie dem Wortlaut der Geschichtsbücher, sondern gibt immer wieder Tiefenschichten frei, die dem Publikum emotional verständlich machen, was logisch kaum oder gar nicht zu erklären ist. So war Ulrich Tukur als RAF-Anführer Andreas Baader ("Stammheim", 1986), SPD-Ikone Herbert Wehner ("Wehner", 1993) und US-General Lucius D. Clay ("Die Luftbrücke", 2005), als Ex-Senator und Altkanzler Helmut Schmidt ("Die Nacht der großen Flut", 2005), Widerstandskämpfer Henning von Tresckow ("Stauffenberg", 2004), Pastor Dietrich Bonhoeffer ("Bonhoeffer - Die letzte Stunde", 2000) oder SS-Obersturmbannführer Kurt Gerstein ("Der Stellvertreter", 2002) zu sehen. Daneben überzeugte er immer wieder in großen internationalen Produktionen ("Solaris", 2002), preisgekrönten deutschen Filmen ("Das Leben der Anderen", 2006) und anspruchsvollen Literaturverfilmungen ("Ein fliehendes Pferd", 2007), sodass man auf die nächsten Arbeiten allemal gespannt sein darf.
Das Kinojahr 2009 wird jedenfalls nicht ohne Ulrich Tukur auskommen müssen. Seine Mitwirkung in Michael Hanekes neuem Film "Das weiße Band" und Costa Gavras "Eden Is West" ist bereits gesichert.