„Postcard Walks“: Auf den Spuren alter Postkarten

Stuttgart (dpa) - Auf „Postcard Walks“ die Stadt entdecken, interessante Menschen kennenlernen und spannende Geschichten hören: Anhaltspunkte für diese Tour sind alte Postkarten vom Flohmarkt. An wen gingen sie?

Wo wohnen die Menschen? Und was können sie erzählen?

Post ist da: eine bunte Karte aus Japan. Mit krakeliger Schrift werden „Grüße aus dem fernen Osten“ übermittelt. Der Poststempel stammt aus dem Jahr 1921. Wer waren die Empfänger dieser Postkarte? Wer schickte die Grüße? Die englische Künstlerin Andrea Greenwood präsentiert weitere Fundstücke vom Flohmarkt: Dutzende Postkarten. Auf einem Stadtplan von Stuttgart hat sie die Adressen eingezeichnet - die Grundlage für einen „Postcard Walk“.

Diese Art der Stadttour ist für Leute gedacht, die ein Viertel mal ganz anders kennenlernen wollen. Darunter: Alte und Junge, Alternative und Aufgebrezelte, Stuttgarter Urgesteine und Touristen.

Die Postkarte aus Japan bringt die Gruppe an den Marienplatz im Stuttgarter Süden. Am Briefkasten ist der gesuchte Name nicht zu finden, hier steht heute ein Büro. Doch was passierte mit den Brüdern, an die die Karte gehen sollte? Helfen kann eine geschwätzige Nonne, die viel über den Stadtteil weiß. „Wie bei einem Detektivspiel“, stellt die Schwester mit aufgeregtem Lächeln fest, als sie die Schrift auf der Karte entziffert.

„Öffentliche Orte kann jeder Tourist sehen. Aber wenn man in das Private der Menschen eintaucht, erfährt man so viel über Stadt, Region und Kultur wie sonst nie“, begeistert Greenwood viele Menschen für diese Form der Stadtführung. „Man weiß nie, wo einen die Postkarten hinführen und was passiert“, sagt die 30-Jährige. Planen kann sie die „Postcard Walks“ praktisch nicht. Auf der Suche nach den Empfängern gelangt man immer wieder auf neue Spuren quer durch die Stadt, lernt interessante Menschen kennen und hört ihre Geschichten.

Die „Postcard Walks“ sind Teil der sogenannten Arttours, die Kaspar Wimberley in Stuttgart veranstaltet. Für die Spurensuche anhand alter Postkarten hat er sich die britische Künstlerin Greenwood ins Boot geholt. „Mit ähnlichen Projekten haben wir auf Festivals begonnen. Es gab auch mal eine Stadtführung mit Hunden durch Linz oder mit Mofas in einer Stadt in Estland“, erzählt er.

Entstanden sind die Arttours, um Touristen aber auch Einheimischen ihre Stadt auf ganz neue, unkonventionelle und aufregende Weise zu zeigen. „Postcard Walks“ sollen nicht das offizielle Bild von Stuttgart vermitteln wie es in Reiseführern steht, sondern die Menschen auf unbekannten Wegen durch die Stadt locken. Die Teilnehmer sollen neue Orte kennenlernen, versteckte Plätze besuchen und mit Menschen ins Gespräch kommen.

Dass selbst Touristen immer individuellere und ausgefallenere Touren möchten, stellt auch das Stuttgarter Stadtmarketing fest. Führungen wie „Von Ällem ebbes“ oder „Frau Schwätzele“ mit einer schwäbischen Hausfrau als Stadtführerin gehören den Angaben nach zu den erfolgreichsten.

Anekdoten von „Postcard Walks“ hat die Londoner Künstlerin Greenwood viele zu berichten. Einmal klingelte sie bei einer Frau, die ihre Postkarte nie erhalten hatte. Sie freute sich wahnsinnig, so viele Jahre später eine Nachricht von einem alten Freund zu bekommen. Prompt meldete sie sich wieder bei ihm.

Greenwood findet nach ihren Besuchen im Ländle, die Stuttgarter seien überraschend freundlich und offen. Auf ihren Touren in Paris sei es weitaus schwerer gewesen, so schnell und innig mit Fremden ins Gespräch zu kommen. Daher bleibt es oft nicht bei einem Klingeln.

Die Spur der japanischen Postkarte aus dem Jahr 1921 führt in das Wohnzimmer einer älteren Dame, der ehemaligen Nachbarin des Brüderpaars. Zwischen Spitzendeckchen und Familienbildern lüftet sie das Rätsel um den Verbleib der Brüder: Die wohlhabenden Fabrikanten starben in den 1950er Jahren und die Familie verkaufte daraufhin das Gebäude am Marienplatz.