Rückblick und Bilanz Fünf Jahre nach der Kölner Silvesternacht

Köln · Die Kölner Silvesternacht vor fünf Jahren markiert für viele das Ende der Willkommenskultur. Den anschließenden Sicherheits- und Fremdheitsdiskurs sehen Forscher heute kritisch.

In der Silvesternacht 2015 waren am Kölner Hauptbahnhof Frauen sexuell belästigt und augeraubt worden.

Foto: dpa/Markus Boehm

Die 20 Jahre alte Frau aus dem Landkreis Rottweil in Baden-Württemberg war nach Köln gekommen, um dort mit Freundinnen Silvester zu feiern. Als sie abends im Hauptbahnhof ankamen, fielen ihnen gleich die „vielen ausländischen Männer“ auf. Auf dem Weg nach draußen spürte die 20-Jährige im Gedränge, wie ihr jemand an den Po fasste. Kaum war sie auf den Bahnhofsvorplatz getreten und hatte ihr Handy gezückt, um den Dom zu fotografieren, als es ihr von hinten aus der Hand gerissen wurde. Mehr als ein Jahr später schilderte sie den Vorfall als Zeugin vor einem Kölner Gericht.

Viele andere Frauen haben in der berüchtigten Kölner Silvesternacht vor fünf Jahren Ähnliches erlebt. Sie wurden sexuell bedrängt oder beraubt, überwiegend von jungen Männern mit ausländischem Hintergrund. Die körnigen verschwommenen Handybilder gingen damals um die Welt: im Vordergrund junge, dunkelhaarige Männer, die Feuerwerk in die Menge schießen, im Hintergrund die Portale, Fenster und Strebebögen der Kathedrale, die wie kaum ein anderes Bauwerk in Deutschland für das „christliche Abendland“ steht.

Fünf Jahre nach den Ereignissen ist die strafrechtliche Aufarbeitung weitgehend abgeschlossen. Nach Angaben der Kölner Staatsanwaltschaft gingen insgesamt 1210 Strafanzeigen ein. Angeklagt wurden letztlich 46 Personen. 36 von ihnen wurden verurteilt. Fünf der 46 Angeklagten wurden wegen sexueller Nötigung angeklagt, verurteilt wurden zwei. Aus Sicht der Opfer sicher ein mageres Ergebnis, doch von Seiten der Justizbehörden heißt es, die Beweisführung sei in solchen Fällen schwierig.

Die Kölner Silvesternacht bezeichnet einen Wendepunkt in der Flüchtlingsdebatte. Viele sprachen vom Ende der Willkommenskultur, es folgte ein monatelanger Sicherheits- und Fremdheitsdiskurs. Nach Erkenntnissen des Sozialpsychologen Andreas Zick kam es dabei zu einer Überbetonung von Kriminalität durch Migranten, „die nicht übereinstimmte mit der Kriminalstatistik, insbesondere bei der Frage: Welche Gruppen sind anfällig für Straftaten?“

Umfragen hätten gezeigt, dass als Folge davon Polarisierungseffekte in der Bevölkerung eingetreten seien. So sei die Zustimmung zu dem Satz „Wir sollten stärker darauf achten, nicht von Migranten überrannt zu werden“ von 28 Prozent im Jahr 2014 auf 42 Prozent 2016 gestiegen, so Zick. Der Berliner Migrationsforscher Wolfgang Kaschuba sieht es ähnlich: Das Thema der sexuellen Gewalt habe durch die Silvesternacht ein „Framing“, eine Einbettung, bekommen - es sei nun in erster Linie mit Fremden verknüpft worden. „Es wurde suggeriert: Wenn wir die fremden jungen Männer fernhalten, dann halten wir uns damit auch dieses Problem vom Hals. Dabei wissen wir schon lange, dass über drei Viertel der sexuellen Übergriffe durch Freunde und Familie stattfinden. Die große Bedrohung kommt also nicht von außen, sondern von innen.“ Erst durch die MeToo-Bewegung sei das wieder zurechtgerückt worden.

Die AfD und andere nutzten die Ereignisse, um die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) anzugreifen. Nach Angaben der Kölner Staatsanwaltschaft stammte jedoch der Großteil der Beschuldigten aus Algerien und Marokko - nicht etwa aus Syrien, dem Land, aus dem in den Monaten zuvor Hunderttausende Kriegsflüchtlinge in Deutschland Schutz gesucht hatten.

„Es gibt in deutschen Städten relativ viele junge Männer aus Nordafrika, die oft schon als Kinder unbegleitet hierher gekommen sind, also eine jahrelange Flüchtlingsbiografie hinter sich haben“, erläutert Kaschuba. „Sie haben nirgendwo Anschluss gefunden und sich deshalb auf Handtaschen- und Handydiebstahl verlegt. Und die landen eben an Silvester auf der Kölner Domplatte, weil sie keinen anderen Ort haben, an den sie gehen können. Das hat eher mit ihrer aktuellen sozialen Situation und weniger mit ihrer Herkunft zu tun.“

Die Kölner Polizei, die in der fraglichen Nacht nur mit relativ geringen Kräften am Bahnhof vertreten gewesen war, stockte ihre Präsenz als Lehre daraus massiv auf. Der Lernprozess war damit aber noch nicht zuende: In der darauf folgenden Silvesternacht 2016/17 gab es zwar kaum noch Sexualdelikte und Diebstähle, aber dennoch wieder Vorwürfe. Hunderte Menschen seien allein aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten nordafrikanischen Herkunft eingekesselt und kontrolliert worden, kritisierte Amnesty International.

Daraufhin passte die Polizei ihre Strategie erneut an - mit Erfolg: 2017/18 bot sich ein positives Kontrastbild zu der berüchtigten Nacht von 2015/16. Rund um den Dom war es pickepackevoll, aber diesmal feierten alteingesessene Kölner und Migranten friedlich zusammen.

Übrigens schilderte die 20-jährige Frau aus Baden-Württemberg, der in der Silvesternacht von 2015 das Handy gestohlen worden war, vor Gericht noch eine andere Erfahrung. Ein Mann war ihr damals zu Hilfe gekommen und hatte ihr den Täter gezeigt, woraufhin sie ihn selbst verfolgte und sich das Handy zurückholte. Im Gerichtssaal traf die 20-Jährige nicht nur den Dieb wieder, sondern auch den unbekannten Helfer. Wie sich herausstellte, war es ein Baggerführer, der erst seit wenigen Jahren in Deutschland lebte. Er stammte aus Afghanistan. Ein Flüchtling.

(dpa)