Angriff in Halle/Saale Angreifer filmt Tat und stellt Video ins Internet
Halle/Saale · Stunden der Angst in Halle: Ein Schwerbewaffneter will eine Synagoge stürmen und scheitert. Kurz danach werden zwei Menschen vor der Synagoge und in einem Döner-Imbiss erschossen.
Der mutmaßliche Täter der Angriffe in Halle/Saale soll in den sozialen Netzwerken ein Bekennervideo hochgeladen haben. In dem am Mittwoch verbreiteten Video ist zu sehen, wie offensichtlich in der Innenstadt von Halle geschossen wird. Unter anderem zeigt das Video, wie in einem Döner-Imbiss mehrfach auf einen Mann geschossen wird, der hinter einem Kühlschrank liegt. Die Aufnahmen stammen wohl von einer an einem Helm befestigten Kamera.
Zu Beginn des Videos ist zu sehen, wie der mutmaßliche Täter in Kampfanzug mit Waffen in einem Auto sitzt. Der Mann gibt in schlechtem Englisch extrem antisemitische Äußerungen von sich.
Bis zum Abend gab es keine Bestätigung der Behörden dafür, dass es sich bei dem Mann im Video um den Attentäter handelt. Zu sehen ist ein junger Mann mit kahlem Schädel in Kampfmontur. Er trägt ein weißes Halstuch. Ein solches Halstuch hatte auch der vermummte Täter getragen, der auf Aufnahmen von den Tatorten zu sehen war.
Das Video dokumentiert allem Anschein nach den Ablauf der Angriffe in Halle aus Sicht des Attentäters. Eine Version des Videos war auf der Streaming-Plattform Twitch zu sehen, wurde dort allerdings gleich wieder gelöscht.
In den Aufnahmen ist zu sehen, wie der Filmende vergeblich versucht, in die Synagoge an der Humboldtstraße zu gelangen. Die Tür bleibt allerdings verschlossen. Daraufhin schießt der Täter auf der Straße einer Passantin mehrfach in den Rücken, die ihn zuvor angesprochen hatte. Die Frau bleibt leblos neben dem Fahrzeug des Täters liegen. Es ist auch zu sehen, wie der Mann in Kampfmontur auf der Straße auf einen Mann zielt, seine Waffe hat aber wohl Ladehemmung. Das Opfer, vermutlich ein Kurierfahrer, kann unverletzt entkommen. „Pech“, sagt die Stimme des Filmenden.
Der mutmaßliche Täter fährt danach mit einem Auto durch die Stadt. Er sagt immer wieder auf Englisch, dass er ein „Loser“ (Verlierer) sei. Bei einem Döner-Imbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße („Kiez-Döner“) steigt der Mann aus, geht in den Laden und schießt mehrfach auf ein Opfer. Anschließend schießt der Mann - so zeigt es das Video - auf eine Polizeistreife, die sich ihm in den Weg stellt. Der Mann berichtet an seine mutmaßlichen Livestream-Zuschauer, dass er am Hals angeschossen worden sei.
Das insgesamt knapp 36 Minuten lange Video liegt dpa vor. Es hat den Anschein, dass der Täter während der Tat per Livestream mit Personen kommuniziert.
Das Vorgehen ähnelt dem Ablauf des Anschlags von Christchurch in Neuseeland. Bei dem Anschlag auf eine Moschee Mitte März waren 51 Menschen getötet und Dutzende verletzt worden. Dem mutmaßlichen Täter droht lebenslange Gefängnishaft. Er hatte den Anschlag mit einer Helmkamera live auf Facebook übertragen.
Die jüdische Gemeinde entging unmittelbar vorher womöglich einer Katastrophe. Ein Täter mit Stahlhelm und Stiefeln versuchte Mittwochmittag die Synagoge mit Waffengewalt zu stürmen, scheiterte jedoch, wie die Deutsche Presse-Agentur aus Sicherheitskreisen erfuhr. In dem Gotteshaus feierten zu dem Zeitpunkt 70 bis 80 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur.
Die Stadt Halle sprach am frühen Nachmittag von einer „Amoklage“. Die Polizei hatte zuvor mitgeteilt, mehrere bewaffnete Täter seien mit einem Auto auf der Flucht. Fotos und Videos, die von Medien veröffentlicht wurden, zeigten aber nur einen maskierten Schützen. Auch Augenzeugen sprachen nur von einem Täter. Am frühen Nachmittag meldete die Polizei die Festnahme einer Person. Aus Sicherheitskreisen hieß es am Abend, es deute nun doch alles auf einen Einzeltäter hin.
Der Generalbundesanwalt zog die Ermittlungen an sich - wegen Mordes von besonderer Bedeutung. Ob es sich um eine antisemitische Tat handelt, sei noch unklar, sagte ein Sprecher in Karlsruhe. Die Stadt rief die Menschen am frühen Nachmittag überall in Halle dazu auf, in Sicherheit in Gebäuden zu bleiben. Die Polizei gab erst am Abend gegen 18.15 Uhr Entwarnung. „Sie können wieder auf die Straße, die Warnungen sind aufgehoben“, twitterte die Polizei. Die Gefährdungslage werde nicht mehr als akut eingestuft.
Angreifer in Halle wollten Türen von Synagoge aufschießen
Bei dem Angriff auf die Synagoge legte der Täter auch selbstgebastelte Sprengsätze vor dem Gotteshaus ab. Es seien dabei mehrere Schüsse gefallen. Ein weibliches Opfer sei vor der Synagoge von den tödlichen Schüssen getroffen worden, erfuhr die dpa weiter. Ob sie ein Zufallsopfer sei, sei unklar. Außerdem habe es einen männlichen Toten im oder an einem Döner-Imbiss gegeben.
Nach Angaben des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Halle, Max Privorozki, richtete sich der Angriff der Täter direkt gegen die Synagoge. „Wir haben über die Kamera unserer Synagoge gesehen, dass ein schwer bewaffneter Täter mit Stahlhelm und Gewehr versucht hat, unsere Türen aufzuschießen“, sagte Privorozki der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“. „Aber unsere Türen haben gehalten.“ Der oder die Täter hätten außerdem versucht, das Tor des danebenliegenden jüdischen Friedhofs aufzuschießen, sagte der Vorsitzende.
Levi Salomon vom Jüdischen Forum für Demokratie und gegen Antisemitsmus bestätigte der dpa nach einem Telefonat mit Privorotzki, der maskierte Täter habe gegen die Tür geschossen, dabei aber nicht in die Synagoge eindringen können. Rund 20 Menschen seien am Nachmittag noch in der Synagoge verschanzt gewesen, darunter auch mehrere Gäste aus den USA. Laut Salomon wurden auch Flaschen mit Flüssigkeit geworfen. Eine habe die Sukka (Laubhütte), eine andere den Jüdischen Friedhof in unmittelbarer Nähe und eine den Hof der Synagoge getroffen. Nur die Flasche gegen den Friedhof habe sich entzündet.
Etwa 30 Meter vor der Synagoge lag ein Todesopfer auf einer Straße mit einer blauen Decke bedeckt gegenüber der Synagoge, wie ein dpa-Reporter berichtete. Zudem soll nach Augenzeugenberichten ein Täter in einem Kampfanzug mit einem Gewehr in einen Döner-Laden geschossen und einen Besucher getötet haben.
Polizei warnt vor Spekulationen
Die Hintergründe waren zunächst völlig unklar. Die Polizei warnte vor Spekulationen. Es gab mindestens zwei weitere Verletzte. Sie wurden in das Universitätsklinikum Halle gebracht. „Ein Patient hat Schussverletzungen und wird gerade operiert“, sagte ein Kliniksprecher.
Die „Mitteldeutsche Zeitung“ aus Halle zeigte ein Foto, auf dem ein dunkel gekleideter Mann mit Helm und Stiefeln zu sehen ist, der ein Gewehr im Anschlag hat. Der MDR zeigte ein Video, auf dem womöglich derselbe Mann aus einem Auto aussteigt und mehrfach seine Waffe abfeuert.
Schüsse auch in Landsberg
Auch in Landsberg, rund 15 Kilometer östlich von Halle, gab es Schüsse, bestätigte eine Polizeisprecherin in Halle. Menschen sollen auch hier Gebäude und Wohnungen nicht verlassen, hieß es. Die Zufahrt zu dem Ortsteil Wiedersdorf war abgesperrt. Mehrere Mannschaftswagen der Polizei, darunter auch Fahrzeuge aus Sachsen, waren vor Ort. Auch zwei Krankenwagen waren zu sehen. Am Mittwochnachmittag gegen 16.00 Uhr landete auf einem Feld bei Wiedersdorf nach Angaben eines dpa-Reporters zudem ein Hubschrauber der Bundespolizei. Angaben zu den Hintergründen machte die Polizei nicht.
Die Stadt Halle hatte einen Krisenstab einberufen. Alle Rettungskräfte der Feuerwehr waren in Alarmbereitschaft versetzt worden. Die Polizei hatte seit den Mittagsstunden alle verfügbaren Kräfte in Sachsen-Anhalt abgezogen und sie nach Halle verlegt.
Im benachbarten Leipzig hatte die Polizei ihre Kräfte vor der Synagoge verstärkt. Auch in anderen deutschen Städten wurde der Schutz von Synagogen verstärkt.
Der Bahnhof von Halle war wegen polizeilicher Ermittlungen gesperrt. Es kam zu Verspätungen. Die Bundespolizei verstärkte ihre Kontrollen an Bahnhöfen und Flughäfen in Mitteldeutschland. Das gelte auch für die Verkehrswege nach Polen und Tschechien, hieß es.
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) zeigte sich entsetzt über die Tat. „Es wurden durch sie nicht nur Menschen aus unserer Mitte gerissen, sie ist auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land.“
Bahnhof von Halle gesperrt, Linienverkehr eingestellt
Der Bahnhof von Halle wurde wegen polizeilicher Ermittlungen gesperrt. Das teilte das Unternehmen über Twitter mit. Es komme zu Verspätungen. Die Bundespolizei verstärkte ihre Kontrollen an Bahnhöfen und Flughäfen in Mitteldeutschland. Das gelte auch für die Verkehrswege nach Polen und Tschechien, hieß es.
Der gesamte Linienverkehr in Halle/Saale wurde eingestellt. Das teilten die Stadtwerke mit. Straßenbahnen und Busse der Halleschen Verkehrs-AG fuhren somit nicht mehr.
Seibert: Bundesregierung entsetzt über tödliche Schüsse von Halle
Die Bundesregierung hat sich bestürzt über den Vorfall in Halle gezeigt. Regierungssprecher Steffen Seibert sprach am Mittwoch von „schrecklichen Nachrichten“. Dass es zwei Tote gebe, sei „entsetzlich“. Er hoffe sehr, „dass die Polizei den Täter oder die Täter möglichst schnell fassen kann und kein weiterer Mensch in Gefahr kommt“. Es sei nun ganz wichtig, dass die Bevölkerung den Anweisungen der Polizei Folge leiste.
Seibert betonte, dass er noch keine Informationen zu den möglichen Hintergründe hat. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums äußerte sich ähnlich: Zur Motivlage seien „derzeit keine seriöse Angaben“ möglich.
Der Grünen-Politiker Cem Özdemir twitterte: „Schreckliche Nachrichten aus Halle, heute am jüdischen Versöhnungstag Jom Kippur. Ich bin erschüttert & traurig.“ Allen Verletzten und Angehörigen wünschte er viel Kraft und dankte den Einsatzkräften.
Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch schrieb auf Twitter: „Am höchsten jüdischen Feiertag ein Anschlag auf jüdisches Leben in Deutschland - ekelhaft! Antisemitismus darf in unserer Gesellschaft keinen Millimeter Platz haben.
Der CSU-Europapolitiker Manfred Weber hat sich erschüttert über die Gewalttat von Halle geäußert. „Es hat einen Angriff auf jüdisches Leben auf deutschem Boden gegeben, das ist für jeden, vor allem für mich als Deutschen, ein Schock“, sagte der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei am Mittwoch im Europaparlament. „Antisemiten und all diejenigen, die die Freiheit des Glaubens in Frage stellen, sind nicht nur unsere Gegner, sie sind unsere Feinde.“ Alle seien gefordert, zum Anti-Semitismus-Nein zu sagen.
Ministerpräsident Haseloff verurteilt tödliche Schüsse als „verabscheuungswürdig“
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) hat die tödlichen Schüsse in Halle als „verabscheuungswürdige Tat“ verurteilt. „Es wurden durch sie nicht nur Menschen aus unserer Mitte gerissen, sie ist auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land“, erklärte er am Mittwochnachmittag. Er sei entsetzt über die Tat. „Mein Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer.“ Haseloff war am Mittwoch eigentlich zu einer Konferenz mit anderen Kohlevertretern aus ganz Europa nach Brüssel gereist, um über Strukturhilfen zu verhandeln. Nach der Tat entschied er sich, vorzeitig nach Sachsen-Anhalt zurückzukehren.
Leipzig und Dresden verstärken Polizeischutz vor Synagogen
Nach den tödlichen Schüssen in Halle hat die Leipziger Polizei ihre Kräfte vor der Synagoge der benachbarten Stadt verschärft. Einer dpa-Reporterin zufolge stehen etwa fünf Polizisten vor dem Gebäude in der Innenstadt, davon sind mit Maschinenpistolen bewaffnet. Weitere Maßnahmen seien bislang noch nicht getroffen worden, so ein Sprecher. Man wolle das weitere Geschehen abwarten und dann entscheiden. Das für Mittwochabend vorgesehene Lichterfest anlässlich des 30. Jahrestages der friedlichen Revolution in Leipzig finde wie geplant statt. Vor der Synagoge in Dresden wurde nach Angaben der Polizei der Polizeischutz ebenfalls erhöht.
Polizei schaltet nach Todesschüssen in Halle Hinweisportal
Die Polizei hat mit Unterstützung des Bundeskriminalamts ein Hinweisportal geschaltet. Dort könnten Fotos oder Videos vom Tatgeschehen hochgeladen werden, teilte die Polizei in Halle am Mittwoch bei Twitter mit. Auch andere Hinweise könnten unter dem Ereignis „Mehrere Schusswechsel in Sachsen-Anhalt“ dort gemeldet werden. Gleichzeitig appellierten die Ermittler, Fotos und Videos nicht in den sozialen Netzwerken im Internet zu verbreiten.