Herr Professor Daldrup, Gift fasziniert die Menschen nicht erst seit „Romeo und Julia“. Wie hat sich bei Ihnen die Faszination entwickelt?
Interview mit Thomas Daldrup Toxikologe: „Viele Giftmorde bleiben wohl unentdeckt“
Düsseldorf · Wenn Menschen durch Gift sterben, ziehen Gerichte oft Thomas Daldrup zurate. Der Toxikologe erzählt im Interview von seinen spannendsten Fällen, etwa den der vergifteten Pausenbrote.
Thomas Daldrup gilt als Koryphäe auf dem Gebiet des Gifts. Viele Jahre hat er die Forensische Toxikologie und die Blutalkohol-Untersuchungsstelle der Düsseldorfer Uni-Klinik geleitet – er arbeitet aber auch im Ruhestand noch als Experte in Gerichtsverfahren. Und: Er plant aktuell die deutschlandweit erste Studie zur Auswirkung von Alkohol auf die E-Scooter-Fahrtüchtigkeit. Dazu wird er Probanden betrunken machen und einen Parcours absolvieren lassen. Seine Frage: Müsste die gesetzliche Alkoholgrenze für die modernen Roller niedriger liegen als für andere Kraftfahrzeuge? Wir sprachen mit dem Forscher über seine spannendsten Fälle und die Frage, ob es den perfekten Giftmord gibt.
Thomas Daldrup: Da war zunächst die Faszination eines Kommilitonen – ich hatte damals Chemie studiert. Er kam auf die Idee, mal eine Vorlesung der Rechtsmedizin zu besuchen. Dann hat uns mein späterer Lehrer das Institut gezeigt und ich war fasziniert, wie dort Analytik eingesetzt wurde, um reale Fälle zu klären.
Was war ihr jüngster Fall?
Daldrup: Das war in diesem Jahr die Gerichtsverhandlung um die Vergiftungen von Patienten des Krebszentrums in Brüggen-Bracht: Da hat ein Heilpraktiker ein „biologisches Verfahren“ für Krebspatienten propagiert und ihnen eine Chemikalie verabreicht mit der Behauptung, die sei etwas „Natürliches“ und nicht giftig. An einem Tag sind drei Patienten dann schwer krank geworden und innerhalb weniger Tage verstorben.
Was war das für eine Chemikalie?
Daldrup: 3-Brompyruvat, abgekürzt 3-BP. Das ist eine Chemikalie, die durchaus Zellen, die viel Energie brauchen, am Wachstum hindert – und Krebszellen brauchen viel Energie. Aber es gibt bisher nur wenige Tierexperimente mit 3-BP.
Der Mann ist verurteilt worden?
Daldrup: Genau. Er hatte eine höhere Dosis zu den Infusionslösungen gegeben, als von ihm notiert. Das Gericht ist von fahrlässiger Tötung in drei Fällen ausgegangen, der Mann bekam Bewährung.
Es stimmt also: Die Dosis macht das Gift?
Daldrup: Grundsätzlich stimmt diese alte Weisheit von Paracelsus, der im 16. Jahrhundert angefeindet wurde, weil er giftige Quecksilbersalze in niedriger Dosierung für Heilzwecke verwendet hat. Alle Stoffe, die wir aufnehmen, können toxikologisch problematisch werden – aber ab einer bestimmten, meist niedrigen Menge sind viele von ihnen wertvoll.
Wie haben Sie als Experte den Prozess um die vergifteten Pausenbrote in Bielefeld erlebt? Es ist ja unglaublich, dass da jemand Menschen vergiftet haben soll, nur um zu sehen, wie sein Gift wirkt.
Daldrup: Das war einer der ganz besonderen Fälle meiner Karriere, über den auch sehr viel in den Medien berichtet wurde. Der Angeklagte soll ein Mensch gewesen sein, der gern für sich alleine war – dennoch hatte er Frau und Kinder und ein Eigenheim. Irgendwann fing er an, im Keller mit Chemikalien zu experimentieren. Es waren mehrheitlich Stoffe, die verzögert wirken oder wirken können. Woher er sein spezielles Wissen zur Wirkung dieser Gifte hatte, konnte ich nicht herausfinden. Besonders eingehend hat er sich mit Quecksilber-Verbindungen befasst.
Und die Vergiftung, die diese hervorrief, war offensichtlich schwer zu diagnostizieren ...
Daldrup: Ja, das stimmt. Es gibt einen ganz bekannten Vergiftungsfall von einer Wissenschaftlerin, die mit einer solchen Verbindung gearbeitet hat und eine winzige Menge auf ihren Laborhandschuh bekam. Wochen später haben sich neurologische Ausfälle bei ihr bemerkbar gemacht – die Frau starb mehrere Monate später durch nachhaltige Gehirnschäden, hervorgerufen durch eine winzige Menge der Quecksilberverbindung, die den Schutzhandschuh und die Haut durchdrungen hatte. Das Quecksilber konnte man in ihren Haaren nachweisen. Und der Arbeitskollege des Täters, der heute im Wachkoma liegt, zeigte vergleichbare Symptome. Zufälligerweise kannte in der Uni-Klinik in Münster einer der Neurologen den Fall dieser Forscherin. Deshalb wurden Proben des Mannes untersucht und tatsächlich wurden bei ihm Quecksilberrückstände in Mengen festgestellt, die für eine akute Vergiftung sprechen.
Der Täter hatte eine so giftige Substanz unten im Keller und oben liefen seine Kinder herum?
Daldrup: Ich kann nur hoffen, dass sie nicht durch die Substanz geschädigt wurden. Die Tatsache, dass sich das Labor im Keller des eigenen Familienhauses befand, ist ein Faktor, der den Fall zum Unikat macht. Zum Glück war meine Aufgabe nicht die Chemikalienuntersuchung – denn ich bin froh, nicht in die Nähe dieser Substanz gekommen zu sein.
Der Täter flog auf, weil eines seiner Opfer eine Substanz auf seinem Pausenbrot bemerkte und dann eine Kamera im Pausenraum installiert wurde. Ihm glückte der perfekte Mord nicht – aber ist Gift nicht am ehesten der Weg zum perfekten Mord?
Daldrup: Tödliche Gewalteinwirkung auf den Körper ist leicht feststellbar. Bei Gift als Tötungsmittel sieht man beim Opfer meist nichts Auffälliges. Selbst eine Obduktion liefert oft keine Hinweise auf das Gift. Folglich fehlt jeglicher Anfangsverdacht. Wenn die Opfer älter oder krank sind, ist es durchaus wahrscheinlich, dass ein natürlicher Tod bescheinigt wird, so dass es zu keinerlei Ermittlungen kommt.
Das bedeutet, dass es möglicherweise viel mehr Giftmorde gibt, als wir wissen?
Daldrup: Ja. Davon müssen wir ausgehen. Erschwerend kommt hinzu, dass es bei toxikologischen Untersuchungen, wenn man nicht weiß, wonach man sucht, oft vom Zufall abhängt, ob man etwas findet. Aber wenn man, wie bei dem von Ihnen erwähnten Pausenbrot-Fall Symptome der Opfer kennt und weiß, welche Verbindungen sie ausgelöst haben könnten, dann kann man gezielt suchen und dann findet man auch sehr seltene Gifte. Die zielgerichtete Auswertung von Beschreibungen bestimmter Symptome gehört zu den herausragenden Aufgaben der Toxikologie. Und die Interpretation der Befunde.
Wie sieht diese Interpretation bei Kriminalfällen aus?
Daldrup: Ich hatte mal den Fall einer Frau, die ihren Mann mit einem Thalliumsalz vergiftet hat – auch eines dieser Gifte, die sehr schleichend wirken. Obwohl es ihm zunehmend schlechter ging, hat sie es nicht für nötig erachtet, die behandelnden Ärzte über die Aufnahme des Salzes zu informieren. Vor Gericht hat sie später sinngemäß gesagt, sie habe ihren Mann nur ein bisschen ärgern wollen. Zur Klärung der Schwere der Schuld durch das Gericht ging es dann um die Frage: Wann hätte man durch gezielte Entgiftungsmaßnahmen noch helfen können und die Schädigung des Gehirns verhindern können – der Mann lag dauerhaft im Wachkoma. Es gibt einige Stoffe, bei denen wir nichts mehr tun können, sobald sie sich im Körper verteilt haben. Thallium gehört nicht dazu.
Quecksilber, Arsen, Thallium – das sind alles „alte“ Gifte. Gibt es auch neue?
Daldrup: Das Krebsmittel 3-Brompyruvat ist zum Beispiel ein neueres Gift. Und dann gibt es noch die vielen synthetischen Drogen, aber auch die zahlreichen Pestizide. E605 ist so eines, das seit 1950 in der Landwirtschaft als Insektizid eingesetzt wurde – und das wenig später sehr populär als Mord- und Selbstmordgift wurde. Es gab vor Jahren mal einen Zeitpunkt, da saßen im Frauengefängnis in Köln gleich drei Frauen, die alle ihre Männer mit E605 vergiftet hatten und auf ihren Prozess warteten. Zu den neueren Giften zählen zudem moderne Arzneimittel, die aufgrund ihrer Wirkung als Gift eingesetzt werden. Die Bewertung der Befunde bei Verdacht einer Tötung durch eine akute Überdosis stellt eine besondere Herausforderung für die forensische Toxikologie dar. Aufgrund des Zweifelsgrundsatzes tun sich die Gerichte jedoch häufig schwer, sich die Beweiskraft toxikologischer Befunde zu eigen zu machen.
Haben Sie ein Beispiel?
Daldrup: Da gab es einen spannenden Fall in den 90ern in Kiel. Ein Arztehepaar war aus der DDR geflohen und hatte sich eine Praxis aufgebaut. Eine reiche Dame fasste Vertrauen zu ihnen, unterstützte sie finanziell. Sie bekam nach einem Essen bei dem Paar massive Bauchbeschwerden. Ein befreundeter Hausarzt des Paares stellte dann am Montag nur durch Tasten eine Krebsdiagnose. Am Dienstag war ein befreundeter Notar da, hat sich eine Blanko-Unterschrift von der Dame geben lassen und später ein Testament mit dem Arztpaar als alleinige Erben daraus gemacht. Und am Mittwoch bekam die alte Dame innerhalb kürzester Zeit eine Überdosis eines Schmerzmittels von der Ärztin, woraufhin sie verstarb. Für uns Toxikologen war die Schmerzmittelvergiftung ganz klar die Todesursache.
Klingt tatsächlich nach einem sehr klaren Fall!
Daldrup: Das Landgericht Kiel hatte die Ärzte verurteilt – aber der Bundesgerichtshof hob das Urteil wieder auf. Ihm diente das Ganze wohl als Präzedenzfall, um Klarheit für Ärzte in Kliniken und Hospizen zu schaffen: Sie sind bei schwersten Schmerzzuständen verpflichtet, diese mit allen Mitteln zu lindern; hierzu muss oft eine sehr hohe Dosis an Medikamenten – etwa Morphin – verabreicht werden. Damals scheuten sich viele Ärzte davor.
Das heißt, es ging um eine rechtliche Absicherung für die Ärzte für den Fall, dass ein kranker Mensch unbeabsichtigt durch die Schmerzmittel stirbt.
Daldrup: Genau. In meinen Augen war dieser Fall jedoch völlig ungeeignet dazu. Das Paar wurde letztlich in zweiter Instanz freigesprochen, da eine natürliche Todesursache nicht völlig ausgeschlossen wurde – geerbt haben sie aber vermutlich nicht, weil das Testament ja gefälscht war.
Was ist denn häufiger: Absichtliche Vergiftungen oder unabsichtliche?
Daldrup: Letztere sind häufiger. Denn es ist nicht einfach, an Gift für die Tötung eines Menschen zu gelangen, und man muss sich als Täter Wissen zur Wirkung aneignen. Trotzdem ist nie sicher, wie das Opfer auf den Stoff konkret reagieren wird. Die Gefahr, entdeckt zu werden, ist durchaus recht hoch.
Es braucht eine höhere kriminelle Energie als das Küchenmesser.
Daldrup: Ja, Morde durch Giftbeibringung lassen sich in der Regel nicht spontan verüben.
Womit kann man sich denn hier in Deutschland – außerhalb der Pilzsaison vielleicht – vergiften?
Daldrup: Es gibt auch hier genug Pflanzen, die toxisch wirkende Alkaloide enthalten.
Wie sieht es zum Beispiel mit Alkohol aus? Vergiften wir uns als Gelegenheitstrinker über die Zeit unseres Lebens selbst?
Daldrup: Nein, es ist dann nicht davon auszugehen, wenn der Alkohol gelegentlich und in eher geringer Menge getrunken wird. Wenn aber die Leber aufgrund des Trinkverhaltens ständig Alkohol abbauen muss, sind chronische Organschäden unvermeidlich. Schädlich ist natürlich auch die Aufnahme von Alkohol in Mengen, die zu hohen Blutalkoholkonzentrationen führen.
Was war die höchste Blutalkoholkonzentration, die Sie in der Untersuchungsstelle je gemessen haben?
Daldrup: Knapp über sechs Promille – bei einer Frau, die eine große Flasche Schnaps auf ex getrunken haben soll.
Und wie kann jemand nach so einer „Dosis“ noch leben?
Daldrup: Es gibt zwei Organe, deren Versagen schnell zum Tod führt: Herz und Gehirn. Wenn der Schwerstbetrunkene nicht mehr selber atmen kann, also an einer Atemlähmung leidet, geht dessen Gehirn zugrunde. Wenn diese Person aber zeitig intensivmedizinisch behandelt und insbesondere mit Sauerstoff versorgt wird, kann der Hirntod verhindert werden. Im konkreten Fall dürfte es fast zwei Tage gedauert haben, bis die Frau wieder alkoholnüchtern war; das Blut, welches nach 24 Stunden intensivmedizinischer Behandlung entnommen wurde, wies nach meiner Erinnerung noch eine Alkoholkonzentration von wenig unter drei Promille auf.
Das klingt, als könnte unser Körper schon Beachtliches leisten, um Giften zu widerstehen?
Daldrup: So ist es. Wir sind in unserem Leben ständig und überall von Giften umgeben.
Aber wir werden nicht zwangsläufig schleichend vergiftet?
Daldrup: Nein, natürlich nicht. Wir Menschen haben schon immer mit Giften gelebt und besitzen sehr effektive Abwehr- und Entgiftungsmechanismen. Diese schützen uns vor toxischen Stoffen, jedoch nur so lange eine gewisse Schwellendosis nicht überschritten wurde. Es lohnt sich daher, gesund zu leben, sich vielseitig zu ernähren und keinen einzigen Stoff im Übermaß aufzunehmen.