Chemie-Nobelpreis: Cyberspace-Basis für Medikamente und Solarzellen

Stockholm (dpa) - Für geniale Computer-Modelle etwa zur Optimierung von Medikamenten und Solarzellen erhalten drei Forscher aus den USA den Chemie-Nobelpreis.

Martin Karplus (USA/Österreich), Michael Levitt (USA/Großbritannien) und Arieh Warshel (USA/Israel) haben Methoden entwickelt, mit denen sich auch komplexe chemische Reaktionen virtuell nachvollziehen lassen. Das teilte die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften am Mittwoch in Stockholm mit. Die höchste Auszeichnung für Chemiker ist mit umgerechnet 920 000 Euro (8 Millionen Schwedischen Kronen) dotiert.

Levitt ahnte einer Mitteilung der Universität Stanford zufolge, „dass etwas in der Luft liegt“. Er sei um 01.00 Uhr ins Bett gegangen und um 02.15 Uhr vom Anruf aus Stockholm geweckt worden. „Das ist wie von der Queen von England angerufen zu werden“, sagte Levitts Frau Rina. Warshel berichtete einem Radiosender: „Um 02.30 Uhr bekam ich einen Anruf. Sie brauchten gar nichts zu sagen, sobald das Telefon klingelte, wusste ich Bescheid.“

Karplus (83) stammt aus Wien und musste als Kind mit seiner jüdischen Familie vor den Nationalsozialisten fliehen. Warshel (72) wurde in einem israelischen Kibbuz geboren, Levitt (66) im südafrikanischen Pretoria.

„Sie sind begeistert von der Wissenschaft, leben für die Wissenschaft. Es sind drei super Typen“, sagte Helmut Grubmüller, Direktor am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttingen. Zur Abwanderung der Wissenschaftler in die USA sagte er: „Es sieht einfach so aus, als ob die Bedingungen zum Forschen in den USA noch besser sind als in Europa.“

„Dieser Preis handelt davon, das Chemie-Experiment in den Cyberspace zu bringen“, erklärte Staffan Normark, Ständiger Sekretär der Akademie. In der Pressemitteilung der Akademie hieß es: „Computermodelle, die das reale Leben widerspiegeln, sind entscheidend für die meisten Fortschritte, die heute in der Chemie gemacht werden.“ Medikamente würden mit ihrer Hilfe optimiert, ebenso Katalysatoren und Solarzellen. „Ich rechne damit, dass das in Zukunft noch sehr viel stärker zum Einsatz kommt, vor allem in der pharmazeutischen Industrie“, sagte Grubmüller.

Um Moleküle nachzubilden, nutzten Chemiker einst Modelle aus Plastik-Bällen und -Stäben. Mittlerweile werden sie virtuell mit speziellen Computerprogrammen erstellt. Mit ihnen lassen sich nicht nur einzelne Moleküle nachbauen, sondern auch die Reaktion mehrerer Stoffe miteinander beobachten. Unter Laborbedingungen ist das kaum möglich: Chemische Reaktionen laufen in Bruchteilen von Millisekunden ab, die einzelnen Schritte lassen sich daher schwerlich verfolgen.

Karplus, Levitt und Warshel legten in den 1970er Jahren eine Basis für solche Programme. Entscheidende Vorgänge wie die katalytische Reinigung von Abgasen oder die Photosynthese in Blättern seien so aufgeklärt worden, teilte die Akademie mit. Vor den bahnbrechenden Arbeiten des Forscher-Trios hätten Chemiker zwei Möglichkeiten der Analyse gehabt. Sie hätten auf Basis der klassischen Physik forschen können, mit der aber keine Reaktionen simuliert werden konnten - oder auf Basis der Quantenphysik, die aber enorme Computerkapazitäten benötigte und daher nur bei sehr kleinen Molekülen einsetzbar war.

„Die Chemie-Nobelpreisträger dieses Jahres nahmen das Beste aus beiden Welten und ersannen Methoden, mit denen beide, die klassische und die Quantenphysik, genutzt wurden“, so die Akademie. Mit Software auf dieser Grundlage kann am Computer getestet werden, wie ein Medikament an seinem Zielmolekül im Körper andockt. Bei den reagierenden Atomen rechnen die Programme auf quantenphysikalischer Grundlage, das gesamte übrige Protein wird auf Basis der klassischen Physik dargestellt. „Die Simulationen sind so realistisch, dass sie die Ergebnisse traditionell durchgeführter Experimente vorhersagen.“

Der Preis unterstreiche, welche zunehmend große Rolle theoretische und Computer-Chemie spielten, ließ die britische Forschungsgesellschaft Royal Society verlauten, zu deren Mitgliedern Levitt und Karplus zählen.

Am Dienstag war der Physik-Nobelpreis Peter Higgs und François Englert zuerkannt worden, deren theoretische Überlegungen zur Entdeckung des Higgs-Teilchens geführt hatten. Einen Tag zuvor war der Medizin-Nobelpreis dem gebürtigen Deutschen Thomas Südhof und den US-Forschern James Rothman und Randy Schekman zugesprochen worden. Sie hatten wesentliche Transportmechanismen in Zellen entdeckt. Gleich zwei der diesjährigen Preise - für Südhof und Levitt - gingen an die Stanford Universität in Kalifornien, die nun 21 lebende Nobelpreisträger zählt.

Die feierliche Überreichung der Auszeichnungen findet traditionsgemäß am 10. Dezember statt, dem Todestag des Preisstifters Alfred Nobel.