Prozess Zweijähriger verhungert - toter Anakin wog nur noch sechs Kilo
Anakin wurde nur zwei Jahre alt. Als er starb, wog er nur etwas über sechs Kilogramm. Hat eine Mitarbeiterin des Jugendamtes nicht genau genug hingesehen?
Medebach. „Hätten sie die Kinder angeschaut, wäre der Tod nicht eingetreten.“ Amtsrichter Ralf Fischer macht der Angeklagten eindringliche Vorhaltungen. Die Frau auf der Anklagebank reagiert nicht. Sie ist Mitarbeiterin des Jugendamtes im Hochsauerlandkreises und betreute die Familie des kleinen Anakin. Jetzt steht sie wegen des Vorwurfs der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung vor dem Amtsgericht Medebach.
Anakin wurde nur zwei Jahre alt. Er ist verhungert. Seine neun Monate alte Schwester konnte noch so gerade gerettet werden. Drei Wochen bevor Ärzte die beiden Kinder zu Gesicht bekamen, war die Mitarbeiterin des Jugendamtes noch bei der Mutter von neun Kindern gewesen, offiziell wegen Auffälligkeiten des Ältesten in der Schule.
Bei der kleinen Tochter fiel der 28-Jährigen nichts auf. Das Mädchen sei ja auch angezogen gewesen, sagt die Frau vor Gericht. Dass die ärztlichen Belege für die nötigen Vorsorgeuntersuchungen fehlten, darüber soll sie hinweggegangen sein. Nach dem schlafenden Anakin sah sie auch nicht. Warum die Jugendamtsmitarbeiterin nicht genauer hinsah und ob sie dazu rechtlich verpflichtet war, das muss das Gericht jetzt klären.
Ihr Chef betont als Zeuge vor Gericht, wie schwierig solche Betreuungsaufgaben sind. Die Jugendämter müssten erst einmal einen Fuß in die Tür bekommen und Vertrauen aufbauen. „Das Dilemma ist: Wenn ich mehr hingucke, verhindere ich den Zugang zur Familie“, sagt der Leiter des Jugendamtes. Die Mutter habe sich dem Jugendamt gegenüber zumindest abweisend gezeigt. Am Vorgehen des Amtes werde sich bei aller Tragik des Falles deshalb nichts ändern. Amtsrichter Fischer ist von dieser Sichtweise nicht überzeugt. „Es ist die Frage zu klären, wie die Institution Jugendamt ihre Aufgabe erfüllen sollte“, sagte er.
Das Jugendamt Hochsauerlandkreis war vorgewarnt. Im Juni 2013 waren bei ihm Unterlagen der vorher für die Familie zuständigen Behörde aus dem Vogtlandkreis in Sachsen eingegangen. Die Mutter hatte sich vom oft aggressiven Vater getrennt und war mit den Kindern ins Sauerland gezogen. In dem Schreiben schilderten die Kollegen aus Sachsen die jahrelangen Probleme der Mutter und ihrer Kinder. Von Kindeswohlgefährdung und Unterernährung war die Rede.
Zunächst hatte sich eine Familienhebamme um die Familie gekümmert. Sie stellte fest, dass keine Gefährdung und keine Unterernährung vorliege. Dabei blieb es im Prinzip, regelmäßige Kontrollen gab es nicht mehr, auch nachdem im August 2013 die Jugendamtsmitarbeiterin die Betreuung übernommen hatte.
Im Februar 2014 eskalierte die Lage in der Familie. Die Mutter brachte ihren bis auf die Knochen abgemagerten Sohn mit einer Magen-Darm-Infektion in eine Klinik. Dort starb der Kleine einen Tag später. Das Mädchen konnten die Ärzte retten.
Auch die 39 Jahre alte Mutter stand schon in Medebach vor Gericht. Der Richter verwies die Sache aber vor einem Urteil an ein höheres Gericht, weil sich die Mutter einer vorsätzlichen Körperverletzung mit Todesfolge schuldig gemacht haben könnte. Damals sagte die Jugendamtsmitarbeiterin als Zeugin aus - und belastete sich selbst. Dieses Mal sind die Rollen vertauscht. Die Mutter war als Zeugin geladen, blieb aber unentschuldigt fern.