5. November 1989: Außenminister aus dem Heizungskeller
Berlin. Ist ja ganz schön was los bei Ihnen“. Ich spreche den DDR-Grenzer am Übergang zur CSSR in Zinnwald ungeniert auf die Trabi-Schlange hinter uns an. „Ja, das rollt den ganzen Tag“, sagt er.
„Jeder, der einen Ausweis hat, kann durch“. Mit dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper fahre ich an diesem Sonntag nach Prag. Eine große Berliner SPD-Gruppe besucht dort die Gedenkstätten in Theresienstadt und Lidice, und wir wollen zu ihr stoßen.
Aber wichtiger sind vorher unsere geplanten Gespräche mit der tschechischen Führung und mit den Oppositionellen. In der CSSR hat die KP das Ruder scheinbar noch fest in der Hand. Demonstrationen hat sie bisher brutal unterdrückt. Der Prager Bezirks-Parteichef Miroslaw Stepan gilt als der neue starke Mann, und so gibt er sich in seinem Büro auch.
Alles im Griff, kein Grund, um etwas zu verändern, so ist gegenüber uns seine Darstellung der Lage. Perestroika und Glasnost, das habe man doch schon längst. Drei Wochen später wird er im Gefängnis sitzen.
Dafür wird Jiri Dienstbier drei Wochen später Außenminister sein. Jetzt hat er einen abgetragenen Anzug an und Schwielen an den Händen. Seit dem Prager Frühling 1968 darf er nicht mehr als Journalist arbeiten. In dem Wohnblock, in dem er lebt, bedient er die Kohle-Heizung.
Er, wie auch die anderen Oppositionellen von der „Charta 77“, die wir in der Residenz des deutschen Botschafters treffen, machen auf mich einen großen Eindruck. Sie wirken zielstrebiger als ihre Freunde in der DDR. Einige von ihnen haben 1968 während des Prager Frühlings schon Regierungserfahrung gehabt. Die Bürgerbewegung in der DDR tut sich mit der Machtfrage schwer.
Sie will das System nicht beseitigen, sondern es reformieren. Die tschechischen Bürgerbewegten hingegen wollen freie Wahlen, komplette Pressefreiheit und demokratische Parteien, sagen sie uns. Klare Ziele. Nur warten sie noch auf den richtigen Zeitpunkt.